Die seit knapp zwanzig Jahren andauernde «grosse» Aktienrechtsrevision kommt in absehbarer Zukunft endlich zum Abschluss. Das am 19. Juni 2020 durch das Bundesparlament verabschiedete neue Aktienrecht tritt im Jahr 2023 in Kraft und wird die Rechtsrealitäten von fast 230’000 Aktiengesellschaften zum Teil erheblich verändern. Die zahlreichen Neuregelungen führen nicht zu einem Systembruch, trotzdem gibt es in verschiedenen Bereichen eine aktienrechtliche «Zeitenwende». Doch seien wir ehrlich, dies interessiert momentan niemanden.
Im Vordergrund der Interessen der Zivilgesellschaft, der Politik sowie der Medien stehen vielmehr seit zwei Jahren die Coronapandemie einerseits sowie seit einigen Wochen der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine andererseits. Beide Monumentalereignisse brachten nicht allein menschliche Tragödien mit sich, sondern wirkten und wirken sich ebenfalls auf die Wirtschaft und auf deren zentrale Rechtsgrundlage aus: das schweizerische Aktienrecht.
Der Bundesrat hat, ohne parlamentarische Mitwirkung, spezifische Verordnungen zu diesen internationalen Krisen erlassen, wobei das Ziel eine pragmatische Problemlösung war. Die Erlasse sind indes nicht bloss rechtsstaatlich heikel, sondern werfen zusätzlich inhaltliche Fragen auf, die zu aktienrechtlichen Rechtsunsicherheiten führen. Es handelt sich um die Covid-Verordnung auf der einen sowie um die Ukraineverordnung auf der anderen Seite, die schwerwiegend in die aktienrechtliche Grundordnung der Schweiz eingreifen. Das Aktienrecht befindet sich zwar nicht in der Krise, jedoch im Krisenmodus. Worum geht es jetzt also?
«Landsgemeinden» der Anteilseigner
Die Covid-Verordnung – als erster Eingriff – sah seit dem Jahr 2020 vor, dass Generalversammlungen ohne Anwesenheit der Aktionäre durchgeführt werden mussten (und weiterhin dürfen). Dass der Bundesrat seit einigen Wochen wieder auf legalen und auf sonstigen Normalbetrieb umgestellt hat, indessen für das ganze Jahr 2022 weiterhin Covid-GV – notabene ohne jegliche Anwesenheit der Aktionäre – erlaubt, erscheint zumindest überraschend, werden die Gesellschafter gegenüber dem früheren Aktienrecht dadurch doch klar benachteiligt.
Seit dem Jahr 1881 müssen die Aktiengesellschaften ihre Aktionäre vor Ort einladen, also eine Präsenz-GV veranstalten. Diese «Landsgemeinden» der Gesellschafter stellen die Basis einer direkten Interaktion zwischen Verwaltungsräten und Aktionären dar; dynamisch können beispielsweise Fragen gestellt werden, und bei unbefriedigenden Antworten vermögen die Aktionäre «nachzustossen», eine Art der gelebten Aktionärsdemokratie. Obwohl das neue Aktienrecht virtuelle Generalversammlungen (Cyber-GV, Internet-GV etc.) ermöglicht, muss bei solchen «Chatrooms» der Aktionäre eine direkte Interaktion sichergestellt sein; die Aktionäre haben zudem ein Mitspracherecht bei der erforderlichen Statutenrevision.
Die Covid-Verordnung erlaubt in Artikel 27, dass in Generalversammlungen die Aktionärsrechte ausschliesslich «auf schriftlichem Weg oder in elektronischer Form» oder durch einen unabhängigen Stimmrechtsvertreter wahrgenommen werden. Solche Covid-GV erweisen sich als billiger und nicht seltener als angenehmer für die Verwaltungsräte, die an den Versammlungen nicht mehr überfallartig mit Fragen oder mit Kritik konfrontiert werden können.
Vor diesem Hintergrund scheinen, menschlich nachvollziehbar, die Unternehmen (und ihre Verwaltungsräte) durchaus interessiert an einem möglichst langen Fortbestehen der Covid-GV, was indes ein Irrweg ist: Eine Generalversammlung ist kein Kuschelzoo, Aktionäre und Verwaltungsräte sollen dynamisch debattieren und allenfalls auch streiten. Der Bundesrat hat, aktienrechtlich kaum nachvollziehbar, eine deutliche Interessenabwägung zulasten der Gesellschafter vorgenommen, die sich aus gesundheitspolizeilicher Sicht nicht aufdrängt. Der aktienrechtliche Krisenmodus der Covid-Verordnung ist nicht gerechtfertigt.
Aushebeln der Aktionärsrechte
Die Ukraineverordnung – als zweiter Eingriff – dient dem Vollzug von Wirtschaftssanktionen gegenüber gewissen russischen Personen (unter anderem Oligarchen) auf Sanktionslisten. Über den Sinn der Regelung darf diskutiert werden, doch die Verordnung stellt geltendes Recht dar, das angewendet werden muss, nicht zuletzt durch sämtliche Behörden.
Neben Handelsbeschränkungen sowie Einreise- und Durchreiseverboten sieht die Ukraineverordnung finanzielle Beschränkungen vor. Heftig diskutiert in den Medien wird besonders die in Artikel 16 geregelte Meldepflicht (beispielsweise von Banken, von Behörden oder von Rechtsanwälten). Etwas aus dem Fokus geraten ist die Frage: Was bedeutet eigentlich Sperrung von Vermögenswerten? Klar erscheint dies fast einzig bei den Banken (und bei Bankkonten) sowie bei den Grundbuchbehörden (und bei Grundbüchern).
Eine sanktionierte Person kann statt in Cash oder in Liegenschaften ebenfalls in Unternehmen investieren, etwa in private oder in kotierte Aktiengesellschaften. Dass Aktien (als Wertpapiere) als Gelder zu qualifizieren sind, scheint unbestreitbar. Als heikler erweist sich, dass die Ukraineverordnung in Artikel 1 zur Sperrung der Gelder vorschreibt: «Verhinderung jeder Handlung, welche die Verwaltung oder die Nutzung der Gelder ermöglicht».
Soll jegliche «Verwaltung» oder «Nutzung» von Aktien verhindert werden, wie der Wortlaut der Ukraineverordnung nahelegt, muss (oder müsste) dies ein umfassendes Aushebeln sämtlicher Aktionärsrechte bedeuten. Dies wäre ein eigentlicher Systembruch im Aktienrecht. Die Rechte der Aktionäre umfassen sowohl die Vermögensrechte (z.B. Bezugsrechte, Dividendenansprüche oder Veräusserungsrechte an Aktien) als auch die Mitverwaltungsrechte (Stimmrechte an der Generalversammlung, Informationsrechte etc.).
Wie hat ein Unternehmen – erstes Beispiel – aufgrund von Artikel 15 der Ukraineverordnung die Dividenden bei Sanktionierten zu handhaben? Verfallen sie der Gesellschaft? Werden sie erst nach Aufhebung der Sanktionsliste fällig? Müssen sie auf ein Sperrkonto ausgezahlt werden? Muss eine Aktiengesellschaft die Veräusserung von Aktien eines Sanktionierten – zweites Beispiel – verhindern, und wie sollte sie dies machen? Haben Sanktionierte an der Generalversammlung – drittes Beispiel – überhaupt keine Stimmrechte? Ändert sich etwas, wenn sie sich mit ihren Stimmen zugunsten einer notwendigen Sanierung des Unternehmens aussprechen möchten? Im Allgemeinen: Wie weit gehen – viertes Beispiel – die Kompetenzen des Staatssekretariats für Wirtschaft, von diesen bundesrätlichen Vorgaben zumindest im Einzelfall sowie zur «Vermeidung von Härtefällen» abzuweichen?
Rechtsunsicherheiten nehmen zu
Fragen über Fragen, wenn auch bloss für wenige Betroffene. Die Ukraineverordnung führt also in einen weiteren aktienrechtlichen Krisenmodus. Die Rechtsunsicherheiten nehmen zu, haben sich doch weder der Bundesrat noch das Seco geäussert, und es fehlen (noch) klärende Gerichtsurteile oder rechtswissenschaftliche Stellungnahmen.
Die aktienrechtlichen Krisenregimes zum Covid-19-Virus einerseits und zum Krieg in der Ukraine andererseits gehen dem heutigen sowie teils ebenso dem neuen Aktienrecht in der Schweiz vor, und zwar als Spezialerlasse (Leges speciales). Beide Ordnungen erweisen sich indessen als heikel im Vergleich zum «regulären» Aktienrecht. Es bleibt zu hoffen, dass sie möglichst bald aufgehoben werden – in erster Linie natürlich als Beleg dafür, dass die Coronapandemie endgültig überstanden und dass der Ukrainekrieg endlich beendet ist.
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Aktienrecht im Krisenmodus
Die aktienrechtlichen Krisenregimes zu Covid und zum Krieg in der Ukraine sind heikel im Vergleich zum «regulären» Aktienrecht. Sie sollten möglichst bald aufgehoben werden. Ein Kommentar von Peter V. Kunz.