Nach vierzig Jahren Mitgliedschaft steckt die Beziehung zwischen Grossbritannien und der Europäischen Union in einer Krise. Die konservative Regierung unter Premierminister David Cameron will das Verhältnis zwischen dem königlichen Inselreich und der EU neu definieren, wie er in einer lange erwarteten Grundsatzrede am Mittwoch darlegt. Damit Grossbritannien in der EU bleiben könne, brauche es Reformen, andernfalls werde das Land langsam zum Austritt getrieben, sagt er. Cameron will die künftige Mitgliedschaft in der EU einem Referendum in der nächsten Legislaturperiode nach 2015 unterstellen. Der Brexit, der Austritt Grossbritanniens aus der EU, ist damit zur realen Option geworden.
Seit Monaten wurde die Grundsatzrede erwartet, der Termin wurde jedoch mehrmals verschoben. Anfang Jahr hiess es, der Premierminister werde seine EU-kritische Position am gleichen Tag darlegen, an dem Deutschland und Frankreich den fünfzigsten Jahrestag des Freundschaftsvertrags feiern würden, ein diplomatischer Fehltritt, auf den die Briten hingewiesen werden mussten. Diese Episode verdeutlicht die Stellung Grossbritanniens innerhalb der EU: dabei, aber eher eine Randerscheinung.
Das ist die Folge der eigenen Geschichte, der Risse innerhalb der grossen Parteien, sowie der Haltung von Charles de Gaulle. Der französische Präsident verhinderte nicht nur einmal, sondern zweimal den Beitritt der Briten zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Ausgerechnet er, der während des Zweiten Weltkriegs in London Unterschlupf gefunden hatte. De Gaulle zweifelte am politischen Willen der Briten, das europäische Projekt mitzutragen. Im dritten Anlauf – de Gaulle war zurückgetreten – klappte es. 1973 trat Grossbritannien der EG bei.
Britische Sonderstellung
Seither fährt der Inselstaat einen Sonderzug. Es begann mit der Neuverhandlung der Mitgliedschaft, über die es schon 1975 ein Referendum gab. Fast zwei Drittel der Briten stimmten für den Verbleib in der EG. Die Stellung Britanniens in der EU ist aber seither ein Streitpunkt innerhalb der Parteien geblieben. Ausdruck davon ist eine britische Sonderstellung. Zum Beispiel bezahlt das Land noch heute weniger Mitgliedschaftsgebühren als üblich. Margaret Thatcher war es, die Anfang der Achtzigerjahre einen nach wie vor geltenden Beitragsrabatt aushandelte. Dann kam der Euro, den Thatcher ebenfalls ablehnte. Weiteres Beispiel für den Sonderweg innerhalb der EU ist Schengen. Dem Abkommen für den passfreien Personenverkehr ist Grossbritannien nicht beigetreten.
Wenn nun Cameron mit einer Neuverhandlung wieder einen neuen Sonderzug verlangt, führt er eine britische Tradition fort. Seine Forderung kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem die EU an einem Wendepunkt steht. Die Eurokrise hat es gezeigt: Die Siebzehnländerwährungsunion muss institutionell näher zusammenrücken. Nichteuroländer wie Grossbritannien sehen ihre Stellung innerhalb der EU angesichts des Eurozonenblocks geschwächt – darum auch der Streit im Zusammenhang mit der Bankenunion. Es ist also die Eurozonenkrise, die die neue britische Position hervorrief. London ist nicht etwa gegen eine engere Zusammenarbeit der Euroländer, will aber ganz einfach nicht Teil davon sein und die Integrität des Binnenmarkts nicht gefährden. Briten gehen eben anders an das Projekt EU heran, wie es Londons Europaminister, David Lidington unlängst treffend formulierte, als er von einer «philosophischen Differenz» sprach. In Deutschland gebe es eine emotionale Verbindung zur EU, in Grossbritannien hingegen nicht. Die Händlernation ist am wirtschaftlichen Vorteil, am Binnenmarkt interessiert. Die politische Integration stand nie auf der Agenda.
Die Skepsis gegenüber der europäischen Integration, das Wahren von Interessen spornen auch Cameron an. Er sagt zwar, er wolle in der EU bleiben, verlangt aber neue Bedingungen. Mit dieser Aussage trifft er bei den Briten einen Nerv. In der letzten Eurobarometerumfrage im Herbst hatte keine Nation ein schlechteres Bild von der EU als die befragten Briten, ausser den Griechen. Nur 17% der Briten fanden die EU «positiv». Ein baldiges Ja-Nein-Referendum würde den sicheren Brexit bedeuten.
Was aber will Cameron mit der Ankündigung eines Referendums nach 2015 erreichen? Erstens will er etwas gutmachen. Er hatte als Oppositionsführer versprochen, über den Lissabonner-Vertrag, eine abgespeckte Version der EU-Verfassung, abstimmen zu lassen, krebste dann aber zurück. Dann geht es um ein Wahlversprechen: Im Parteimanifest für die letzte Parlamentswahl hiess es, die Konservativen würden Rechte und Befugnisse, die nach Brüssel delegiert wurden, zu repatriieren versuchen. Dabei geht es um Arbeitsrecht, Gerichtsbarkeit und Zusammenarbeit bei polizeilichen Ermittlungen. Was die letzten zwei Punkte angeht, kann die Regierung die bestehende Opt-out-Klausel im Lissabonner-Vertrag bis 2014 nutzen. Welche Aspekte der Beziehung zur EU aber sonst noch neu verhandelt werden sollen, ist unklar. Eine Kommission der Regierung prüft derzeit, inwieweit die EU Einfluss auf das Leben der Briten nimmt.
Ob es Cameron aber wirklich um eine strategische Neubestimmung der Beziehung Grossbritanniens zur EU geht? Ihm liegt vor allem die nächste Parlamentswahl in zwei Jahren am Herzen. Er verknüpft die Wahl mit der Zukunft in der EU aus gutem Grund: um konservative Wähler zu behalten. Am rechten Rand gräbt die Unabhängigkeitspartei Ukip Stimmen ab. Gemäss Umfragen gewinnt Ukip, die gegen Einwanderung politisiert und sich mit antieuropäischen Themen profiliert, Anhänger. In einigen Umfragen erhielt sie schon mehr Zustimmung als die Liberaldemokraten, die mit Cameron in Koalition regieren. Nicht zuletzt zwingt Cameron die oppositionelle Labour-Partei, in Sachen EU Stellung zu beziehen.
Wirtschaftliches Wagnis
Nicht alle halten Camerons Vorgehen für klug. Der frühere Vizepremier und europafreundliche Tory Michael Heseltine etwa findet, sich zu einem Referendum bekennen, das auf Neuverhandlungen basiert, die noch nicht einmal begonnen haben und deren Dauer sowie Ergebnis unbestimmt sind, sei ein unnötiges Wagnis für die Wirtschaft. Sollte das Damoklesschwert eines EU-Austritts über Investitionsentscheidungen hängen, hätte dies negative Folgen. Der Handel mit der EU dürfte ebenso leiden: Die Hälfte des Aussenhandels steht in Verbindung mit der EU. Da mögen Befürworter der EU recht haben, wenn sie sagen, die EU-Mitgliedschaft koste nur rund 1% des Bruttoinlandprodukts. Dieses Geld einsparen zu wollen, sei gegenüber den wirtschaftlichen Risiken eines Austritts unverantwortlich. Gegner der EU argumentieren, nicht dem Euroraum beigetreten zu sein, habe auch nicht geschadet. Das Wirtschaftswachstum war, seit es die Währungsunion gibt, dynamischer als dasjenige in der Eurozone. Es würde also genügen, am Binnenmarkt, dessen Rahmen aber einzig EU-Mitglieder mitbestimmen, teilnehmen zu können, so wie Norwegen und die Schweiz. Das wäre politisch gesehen ein Abstieg in die zweite Liga, sowohl innerhalb Europas als auch ausserhalb, und widerspräche britischem Selbstverständnis.
Auf der Insel gibt es viele, die meinen, die EU wäre erfreut darüber, wenn sich Grossbritannien verabschieden würde. Ihnen widersprechen europäische Politiker, auch in Frankreich und Deutschland. Ein Brexit wäre für die EU nicht wünschenswert. Erstens würde sie einen Nettozahler verlieren. Zweitens würde Grossbritanniens liberale Haltung fehlen. Zusammen mit Schweden stemmt sich das Land öfter gegen die marktkritischeren Frankreich und Deutschland. Nicht zuletzt verlöre die EU ihren Status als Friedensprojekt, wenn die dritte Grossmacht Europas nicht mehr Teil der Union wäre. Darüber hinaus könnte der erste Austritt überhaupt eine institutionelle Krise hervorrufen. Das alles heisst aber noch lange nicht, dass sich die EU auf Forderungen Camerons einlässt.
Weder aus politischer noch aus wirtschaftlicher Sicht wäre ein Austritt aus der EU das beste für Grossbritannien. Doch zwischen der EU-Rede von David Cameron am Mittwoch und einem Referendum der Briten über die EU-Mitgliedschaft liegen Neuverhandlungen und eine Parlamentswahl. Der Brexit ist daher erst eine Option. Eine aber, die es ernst zu nehmen gilt.
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Brexit ist eine ernsthafte Option
David Cameron stellt das Verhältnis Grossbritanniens zur Europäischen Union in Frage. Er will die Mitgliedschaftsbedingungen neu aushandeln. Ein Kommentar von FuW-Redaktor Clifford Padevit.