Den 13. Fünfjahresplan bereitet China in einem besonders heiklen Moment seiner Entwicklung vor. Nach einem goldenen Jahrzehnt verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum seit 2012. Für dieses Jahr sehen die Prognosen ein Wachstum von unter 7% vor, Besserung ist für 2016 nicht in Sicht. Diese Zahlen an sich sind noch nicht alarmierend. Entwickelte wie auch Entwicklungsländer unterliegen Konjunkturschwankungen, und eine Wachstumsrate von 7% in einem Abwärtszyklus ist wahrlich kein Grund zur Sorge. Es steht im Einklang mit der ökonomischen Theorie, dass Chinas Wachstumstempo mit zunehmendem Wohlstand des Landes nachlassen wird.
Dass sich gesellschaftliche und politische Stabilität nur wahren lässt, wenn Chinas Wirtschaft 10% expandiert, gehört ins Reich der Märchen. Läuft alles reibungslos, wird das Wachstum über die nächste Dekade 5 bis 6% jährlich betragen. Das genügt, um den durchschnittlichen Lebensstandard der Bevölkerung auf das heutige Niveau etwa Polens oder Portugals zu heben. In diesem Szenario würden die am weitesten entwickelten Regionen des Landes bis dahin einen Lebensstandard erreichen, der dem in Westeuropa entspricht.
Allerdings gibt es Grund zur Annahme, dass es nicht ganz reibungslos laufen wird. Seit der Lancierung des chinesischen Stimulusprogramms 2009 basiert das Wachstum auf einer – selbst für chinesische Verhältnisse – ungewöhnlich hohen Investitionsrate. Kostspielige Projekte von Lokalregierungen sowie Überinvestitionen in der Bau- und in rohstoffnahen Industrien haben riesige Überkapazitäten entstehen lassen, was die Rendite auf das Kapital massiv drückt. Gemäss jüngsten Schätzungen hat sich die Steigerung der Faktorproduktivität in den vergangenen fünf Jahren halbiert. Ein solches Wachstum ist nicht aufrechtzuerhalten.
Die Falle der mittleren Einkommen
Das Gespenst, das in Peking umgeht, heisst Falle der mittleren Einkommen. Weltweit ist zu beobachten, dass Volkswirtschaften Mühe bekunden, ein hohes Wachstumstempo beizubehalten, sobald ihr Bruttoinlandprodukt 25 bis 30% der sogenannten Technology Frontier, der Technologiegrenze, erreicht, die vom Produktivitätsniveau in Ländern wie den USA oder der Schweiz bestimmt wird. Natürlich gibt es einige Erfolgsgeschichten, man denke etwa an Südkorea, Taiwan oder Singapur. In vielen Ländern aber scheint das Wachstum nicht über eine gewisse Schwelle hinauszukommen, etwa in Brasilien, Mexiko, Peru, möglicherweise auch Malaysia und Indonesien. Mit einem Pro-Kopf-BIP entsprechend 23% des US-Werts mag China nun an diesem Wendepunkt angekommen sein.
In Forschungsarbeiten mit Daron Acemoglu und Philippe Aghion argumentieren wir, dass der Schlüsselfaktor, um der Falle der mittleren Einkommen zu entgehen, in politischen und institutionellen Reformen besteht, die den Wechsel von investitions- zu innovationsgetriebenem Wachstum ermöglichen. Kurz gesagt: Volkswirtschaften, die sehr weit im Rückstand sind, können das Wachstum ankurbeln, indem sie Investitionen fördern und die in fortgeschrittenen Ländern verwendeten produktiveren Technologien kopieren. Dieses Wachstum verliert jedoch an Schwung, sobald die Kluft zu den Technologieführern schrumpft.
Länder, die es versäumen, an diesem Punkt den Innovationsmotor anzuwerfen, finden sich in der Falle der mittleren Einkommen wieder. China hat das investitionsgetriebene Wachstum sehr erfolgreich angekurbelt. Ebenso gibt es Zeichen zunehmender Innovationsfähigkeit lokaler Unternehmen, einschliesslich Erfolgsgeschichten wie Baidu und Alibaba. Der Übergang zu einem innovationsgetriebenen Wachstumsmodell erfordert jedoch wirtschaftliche Reformen, die allerdings den Widerstand der Eliten wecken.
Behörden zwischen Korruption und Effizienz
Da wäre etwa die Rolle der lokalen Regierungen, wie in den jüngsten Studien der führenden chinesischen Forscher Chong-en Bai, Chang-tai Hsieh und Zheng Song («Crony Capitalism with Chinese Characteristics») dargelegt. In vielen Entwicklungsländern sind lokale Regierungen nichts als auf den eigenen Vorteil bedacht und stehen wirtschaftlichen Aktivitäten im Weg. Sie nötigen den Unternehmen Mittel ab, ohne im Gegenzug irgendwelche Leistungen zu erbringen. Während Korruption auch in China weit verbreitet ist, behindern die lokalen Behörden das wirtschaftliche Leben aber nicht. Im Gegenteil: Sie wetteifern um Unternehmen, bieten ihnen Wege, regulatorische Hürden zu umgehen, oder garantieren lokale Monopolstellung. Anstelle fairer Wettbewerbsbedingungen gibt es so ein Netzwerk lokaler bilateraler Absprachen, in dem bestimmte Unternehmen von Privilegien profitieren.
Das hat gute wie auch schlechte Seiten. Einerseits agieren die lokalen Behörden und die Partei sehr effektiv. Anders als in anderen Entwicklungsländern sind sie kompetent, arbeiten hart und sind in hohem Mass handlungsfähig, da ihre Verfügungsgewalt nicht angefochten wird. In einem solchen Umfeld ist die Bestechung lokaler Behörden für private Unternehmen ein sicheres Investment. Andererseits verhindern zwielichtige bilaterale Deals, dass aussenstehende Unternehmen Wettbewerbsdruck aufbauen. Die lokalen Machthaber können das problemlos unterbinden, indem sie der Regel folgen «für meine Freunde ein Gefallen, für meine Feinde die Härte des Gesetzes».
Diese diskriminierenden Praktiken führten zum Ziel, als es galt, private Investitionen anzukurbeln. Die daraus erwachsene Filzokratie verhindert jedoch innovationsgetriebenes Wachstum. Dieses bedingt einen Verdrängungswettbewerb: Etablierte Unternehmen müssen weichen, sobald neue Firmen mit neuen Ideen und besseren Technologien aufwarten. Zudem mindert die lokale Monopolstellung die Anreize für die überbeschützten Platzhirsche, selbst innovativ zu sein.
Rahmenbedingungen, Finanzmarkt, Justiz
Xi Jinpings Antikorruptionskampagne geht die traditionellen Praktiken der lokalen Regierungen an. Doch ohne zusätzliche Massnahmen könnte sie sich als ungenügend oder gar kontraproduktiv erweisen. Im Worst-Case-Szenario würden die lokalen Behörden einfach auf sämtliche Unternehmen stur alle schwerfälligen Vorschriften anwenden und damit Investitionen ebenso behindern wie Innovation. Was ist also zu tun?
Erstens gilt es, die gesetzlichen Rahmenbedingungen radikal zu reformieren, um die Geschäftstätigkeit zu erleichtern – derzeit schneidet China diesbezüglich gemäss dem Ranking der Weltbank weltweit mit am schlechtesten ab, vergleichbar mit Sambia und Guatemala. Zudem ist eine Reihe institutioneller Probleme anzupacken. So ist der inländische Finanzmarkt unterentwickelt, was die Finanzierung vielversprechender Start-up-Projekte erschwert. Venture-Capital-Finanzierungen stecken in den Kinderschuhen.
Ein Erfolgsbeispiel, an dem China sich ein Vorbild nehmen sollte, ist das Kreditprogramm des E-Commerce-Riesen Alibaba für Start-up-Projekte und Kleinunternehmer: Es umfasst mittlerweile ein Kreditvolumen von 2 Mrd. $, mit 312‘000 gesprochenen Darlehen. Trotzdem ist das kaum mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Förderung von Institutionen, die die Entwicklung innovativer Ideen und neuer Unternehmen finanzieren, bleibt ein grosses Thema.
Ein weiteres Problem ist das Fehlen einer unabhängigen Justiz. Wird ein aussenstehendes Unternehmen, das eine den Behörden nahestehende Gesellschaft konkurrenzieren will, von den Behörden drangsaliert, ist es ihm so gut wie unmöglich, seine berechtigten Interessen vor Gericht zu verteidigen. Die Partei kann Richter nach Gutdünken kurzerhand ihres Amtes entheben. Das Thema ist kontrovers: Die Zentralregierung erkennt die Notwendigkeit, die Verfügungsgewalt der lokalen Behörden einzuschränken. Eine radikale Reform des Justizsystems, die die Richter von der Kontrolle durch die Kommunistische Partei befreien würde, ist jedoch nicht in Sicht.
Hohes Wachstumsziel kann kontraproduktiv sein
Der nächste Fünfjahresplan wird nicht nur die politischen Prioritäten Chinas beleuchten, sondern auch ein explizites Wachstumsziel nennen. Wie diese Zahl aussehen sollte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Manche chinesischen Ökonomen fordern ein ambitioniertes Wachstumsziel, weil sich Partei und lokale Regierungen so zu verstärkten Anstrengungen mobilisieren liessen. Andere wenden – zu Recht, wie ich finde – ein, eine hohe Vorgabe sei kontraproduktiv.
Bleiben die Aussichten für die Wirtschaft schwach, könnte ein überehrgeiziges Wachstumsziel Zentral- und lokale Regierungen veranlassen, weiterhin nach keynesianischem Vorbild Infrastruktur- und Bauprojekte zu forcieren. Damit mag man sich höheres Wachstum in den nächsten zwei, drei Jahren erkaufen; der Preis wäre allerdings, dass die Basis für eine nachhaltige, marktorientierte Entwicklung untergraben würde. Aus diesem Grund erscheint jede Zielrate über 6% nicht ratsam.
Ohnehin halte ich das Konzept von Wachstumszielraten für ebenso irreführend wie fehlgeleitet. Je weiter die Liberalisierung der Wirtschaft voranschreitet, desto eher ist es nur eine Frage der Zeit, bis Chinas Führung sich von solchen Zielvorgaben verabschieden und zum bescheideneren Konzept von Wachstumsprognosen übergehen muss.
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China unterwegs von Investition zu Innovation
Je mehr sich Chinas Wirtschaft liberalisiert, desto eher wird Peking von Wachstumsvorgaben zum bescheideneren Konzept von Prognosen wechseln. Ein Kommentar von Fabrizio Zilibotti.