Ganz Amerika sitzt an diesem Abend Ende September 1960 vor dem Fernseher. Erstmals tragen zwei Präsidentschaftskandidaten eine Debatte live im TV aus. Rund siebzig Millionen Zuschauer verfolgen den Showdown zwischen Richard Nixon und John F. Kennedy. Das politische Klima ist aufgeheizt. Der Kalte Krieg spitzt sich mit der kommunistischen Revolution in Kuba zu, und in US-Grossstädten flammen Rassenunruhen auf.
Als amtierender Vizepräsident gilt Nixon als klarer Favorit. Wegen einer Entzündung am Knie lag er vor der Debatte jedoch im Spital und wirkt im Licht der Studioscheinwerfer abgemagert, bleich und verschwitzt. Kennedy hingegen strahlt mit gebräuntem Teint Elan aus. Er ist ausgeruht, hat sich minutiös vorbereitet und blickt selbstbewusst in die Kamera. Entsprechend gut kommt er beim Publikum an. Die Stimmung kippt, und Anfang November wird JFK zum jüngsten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Die Hälfte der Wähler sagt, dass die Debatte ihren Entscheid beeinflusst hat.
Die Episode aus den frühen Sechzigerjahren macht deutlich, wie viel am Montag auf dem Spiel steht, wenn sich Hillary Clinton und Donald Trump das erste Rededuell liefern. Nach dem bisherigen Wahlzirkus würde ein Zuschauerrekord nicht überraschen. Vor wenigen Wochen sah alles danach aus, dass Clinton locker gewinnen würde. Der Vorsprung ist aber drastisch geschmolzen, wozu nicht zuletzt ihr Schwächeanfall an der Gedenkfeier zum 11. September beigetragen hat.
Derweil agiert Trump seit dem Führungswechsel in seinem Team ungewohnt diszipliniert. Er liest bei Auftritten vom Teleprompter ab, interessiert sich für Minderheiten und verzichtet weitgehend auf Twitter-Tiraden. In den landesweiten Umfragen liegt er nur noch knapp hinter Clinton und ist in Schlüsselbundesstaaten wie Florida, Ohio und North Carolina gleichauf.
Hillarys Millionen
Wie damals für Kennedy eröffnet die Debatte für Trump als Aussenseiter die Chance, das Rennen zu drehen. Bleibt es aber knapp, hat Clinton einen erheblichen Vorteil, von dem kaum jemand spricht: Sie verfügt über die wohl schlagkräftigste Kampfmaschine in der Geschichte der Präsidentschaftswahlen. Ihrer Kampagne ist bereits über eine halbe Milliarde Dollar zugeflossen, während Trump bloss auf 200 Mio. $ kommt.
Einen Grossteil des Geldes hat sie in eine weitflächige Infrastruktur investiert. So waren Ende August fast 800 bezahlte Helfer für Clinton im Einsatz, wogegen Team Trump nur 130 auf der Lohnliste hatte. In dem guten Dutzend Bundesstaaten, wo der Entscheid meist knapp ausfällt, ist Clinton mit fast 300 Wahlbüros präsent. Im Fall von Trump sind es weniger als 90, wie Recherchen des öffentlichen Senders PBS zeigen.
Das verschafft Clinton im Ground Game eine erdrückende Übermacht. Der Begriff, der aus dem American Football stammt, bezeichnet die aufwendige Arbeit, Wähler zu mobilisieren und an die Urne zu bringen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Präsenz vor Ort mit Telefonzentralen, das Einbinden freiwilliger Helfer sowie Hausbesuche. Lange haben sich Kampagnen dafür auf den Instinkt von Strategen verlassen. Mithilfe sozialer Medien und der Analyse riesiger Datenmengen hat Barack Obama die Disziplin in seiner ersten Kandidatur von 2008 jedoch revolutioniert und bei der Wiederwahl 2012 noch eine Stufe höher gebracht.
Wie Forscher im Labor führte sein Team unzählige Experimente mit Kontrollgruppen durch, um herauszufinden, welche Argumente bei bestimmten Wählern am besten greifen und wie man sie psychologisch zum Abstimmen motiviert. Massgeschneiderte Computerprogramme glichen diese Erkenntnisse dann mit demografischen Daten und anderen Informationen ab, sodass Obamas Kampagnenteam in jedem einzelnen Wahlbezirk Amerikas genau wusste, wo und wie es am meisten Stimmen zu holen gibt.
Natürlich ist ein gutes Ground Game kein Garant für den Sieg. Es ermöglicht aber den optimalen Einsatz finanzieller Ressourcen und ein effizientes Zeitmanagement. Gerade im Schlussspurt einer Kampagne gibt das oft den Ausschlag, wie der Journalist Sasha Issenberg im Standardwerk «The Victory Lab» festhält. Die Faustregel besagt, dass ein Kandidat sein Wahlresultat damit um bis zu drei Prozentpunkte verbessern kann.
Clinton verlässt sich dabei noch stärker auf die Datenanalyse als Obama. Ihre Kampagne baut auf seiner Erfahrung auf und beschäftigt ein Team von rund sechzig Mathematikern und IT-Spezialisten, die anhand statistischer Modelle fortlaufend Tausende von Wahlsimulationen durchrechnen. Dadurch wissen ihre Helfer nicht nur, mit wem sie sprechen und was sie sagen sollen, sondern sogar auch, wann der beste Zeitpunkt dafür ist. Das wird in den kommenden Wochen zusehends wichtiger, zumal in den ersten Bundesstaaten die briefliche Abstimmung begonnen hat. Auf diesem Weg wird ein Drittel der Amerikaner bereits vor dem Wahltag am 8. November die Stimme abgegeben haben.
Führt Clinton mit ihrer Hightech-Maschine einen konventionellen Wahlkampf, gleicht die Kampagne von Trump einer Guerilla-Operation. Sein Ground Game war in den Vorwahlen nahezu inexistent, was mit ein Grund ist, warum sein Erfolg Experten völlig überrascht. Während Anwärter wie Jeb Bush, Marco Rubio oder Ted Cruz ihre Kandidatur von langer Hand vorbereiteten und Millionen in Bodentruppen investierten, hat Trump auf Improvisation und eine «schlanke» Organisation gesetzt. Big Data sei «überbewertet», hat er erklärt.
Jetzt ist sein Wahlkampfteam jedoch arg im Hintertreffen. Seit Mitte August von der Umfragespezialistin Kellyanne Conway geleitet, muss es sich vorab auf externe Analysedienstleister und die Datenbank verlassen, die der republikanische Parteiapparat in den letzten Jahren aufgebaut hat, um den Anschluss im technologischen Wettrüsten mit den Demokraten nicht zu verlieren.
Fernsehpromi Trump
Trump nützt damit genau die Vorarbeit des Establishments aus, über die er sich zuvor mit seiner «selbstfinanzierten» Kampagne so gern lustig gemacht hat. Clintons organisatorischen Vorsprung wird er in den gut sechs Wochen bis zu den Wahlen nicht wettmachen können. Seine Chancen hängen daher von seiner Prominenz im Fernsehen ab. Gemäss dem Researchhaus mediaQuant kommt seine allgegenwärtige Medienpräsenz über die vergangenen zwölf Monate kostenfreier Werbung im Wert von 4,6 Mrd. $ gleich.
Für Clinton sind es knapp 2,5 Mrd. $. Zudem hofft Trump, dass der Enthusiasmus seiner Supporter so gross ist, dass sie auch ohne eine Armee von Helfern in Rekordzahl an der Urne erscheinen. Diese Rechnung mag vielleicht bei seinen Kernanhängern aus der weissen Arbeiterschicht aufgehen. Eine andere Frage ist, wie es sich mit den mehr als 10% der Wähler verhält, die noch unentschlossen sind.
Umso entscheidender ist für Trump die erste Debatte. Es gibt zwar noch zwei weitere Wortgefechte zwischen den beiden Kandidaten, doch das erste ist in der Regel das mit Abstand wichtigste. In vergangenen TV-Duellen kam es schon mehrfach zu folgenschweren Patzern. In den Wahlen von 2000 etwa verliess Al Gore abrupt das Rednerpult und schritt auf George W. Bush zu. Dieser quittierte das Ablenkungsmanöver nur mit einem lächelnden Kopfnicken und punktete so beim Publikum. Ein grosses Debakel erlitt 1976 Gerald Ford, als er vor laufenden Kameras behauptete, Osteuropa werde nicht von der Sowjetunion dominiert.
Kennedy sah sich zwei Jahre nach dem Sieg über Nixon in der Kubakrise einer der gefährlichsten Konfrontationen des Kalten Krieges gegenüber. Entgegen dem Rat seiner Generäle sperrte er sich im Herbst 1962 gegen einen Militärschlag, worauf sich die Situation entspannte. Wer weiss schon, was für ein Schicksalsentscheid auf das nächste US-Staatsoberhaupt wartet?
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Clintons Kriegsmaschine
Am Montag findet die erste Debatte vor den US-Präsidentschaftswahlen statt. Für Trump ist es die letzte Chance, das Rennen trotz Clintons organisatorischer Übermacht noch zu drehen. Ein Kommentar von FuW-Redaktor Christoph Gisiger.