Was kann die Wirtschaftspolitik tun, um die Belastung im Zuge der Coronakrise zu mildern? Über die Notmassnahmen sind sich die meisten Ökonomen einig. Die Notenbanken sollten Liquidität ins System pumpen, um Bankrotte und Entlassungen zu verhindern. Bedenken wegen Fiskaldisziplin sollten vorerst beiseitegelegt werden, damit die Regierungen den Spielraum haben, die Krise zu bekämpfen.
Doch was die mittel- und die langfristige Strategie anbelangt, herrscht Unsicherheit, und die Meinungen gehen auseinander. Das zeigt auch die Umfrage, die das Forschungszentrum Initiative on Global Markets (IGM) der Booth School of Business, Universität Chicago, unter einflussreichen Makroökonomen auf beiden Seiten des Atlantiks durchgeführt hat. Zu beurteilen galt es unter anderem die Aussage: «Die wirtschaftlichen Effekte von Covid-19 wegen verringerter Ausgaben werden grösser sein als die Folgen der Unterbrechung der Lieferketten und der krankheitsbedingten Arbeitsausfälle.» Von den Umfrageteilnehmern aus Europa stimmten 43% dieser Aussage zu, 41% waren unsicher, 12% sprachen sich ablehnend aus. Die Antworten der amerikanischen Teilnehmer fielen ähnlich aus, mit einem grösseren Anteil an Unsicheren. Die Frage ist mehr als nur ein akademisches Gedankenspiel. Sie ist entscheidend dafür, welche Massnahmen Erfolg versprechen und welche nutzlos sein dürften.
Die letzten beiden schweren Rezessionen waren von komplett unterschiedlicher Natur. In den Siebzigerjahren war es ein vom Erdölkartell Opec ausgelöster steiler Anstieg der Ölpreise, der eine Rezession nach sich zog. Die Politik reagierte darauf mit einer Ausweitung von Nachfrage und Ausgaben, im Geiste des keynesianischen Ansatzes der Sechzigerjahre. Allerdings greifen solche Massnahmen nicht, wenn die Rezession durch eine Störung der Angebotsseite – wie einen steigenden Ölpreis – hervorgerufen wurde. Statt eine Erholung anzustossen, kurbelte die Reaktion der Regierungen die Inflation an, die dann in den Achtzigerjahren wiederum mit schmerzhaften Massnahmen angegangen werden musste. Die grosse Rezession von 2007 bis 2009 war ganz anders geartet. Sie wurde hochgradig von der Nachfrageseite getrieben. Der Absturz der Asset-Preise liess auch die als Sicherheiten hinterlegten Werte erodieren und setzte eine Deleveraging-Spirale in Gang. Die gemeinsamen Interventionen der Notenbanken in Kombination mit fiskalischen Stimulusmassnahmen griffen.
Auswirkungen auf die Nachfrageseite
Makroökonomen und Politiker neigen dazu, sich von den Erfahrungen der jeweils jüngsten Episode leiten zu lassen. Meiner Ansicht nach eignet sich die grosse Rezession von 2007 bis 2009 aber nicht als Leitplanke für den Umgang mit der Coronakrise. Erstens und vor allem: Die heutige Krise gründet auf einem Angebotsschock. Menschen sind krank und können nicht zur Arbeit erscheinen, Unternehmen können wegen des Lockdown ihre Produktion nicht effizient aufrechterhalten. Viele Leute erledigen ihre Arbeit unter unüblichen Bedingungen, was ihre Produktivität beeinträchtigt. Nach und nach werden Technik und Organisation entsprechend angepasst, doch auf kurze Frist ist die physische Abwesenheit der Arbeitskräfte eine bedeutende Einschränkung. Noch gravierender mit Blick auf den Angebotsschock ist die Unterbrechung der Lieferketten. Bricht die Epidemie auf einem Kontinent aus, wird die Produktion weltweit beeinträchtigt. Dazu gesellen sich noch Störungen des internationalen Handels. Vor einigen Tagen hat Roche-CEO Severin Schwan in einem Interview gesagt, die Produktion von Wirkstoffen innerhalb nationaler Grenzen zu gewährleisten, sei illusorisch: «Man kann nicht die globale Lieferkette in ein Land holen.»
Am Ursprung der Krise steht zwar ein Angebotsschock, natürlich gibt es aber auch Auswirkungen auf die Nachfrageseite. Kleine Unternehmen verlieren Cashflow, der für ihren Liquiditätsbedarf essenziell ist. Das könnte in ineffizienter Liquidation von Vermögenswerten und in Jobverlusten resultieren. So mancher wird seine Miete, seine Steuerrechnung usw. nicht mehr zahlen können. Kurz gesagt: Der Schock trifft die Angebots- wie auch die Nachfrageseite. Das erfordert ein ganzes Paket von Massnahmen. Hier können Geld- und Fiskalpolitik helfen.
Es wäre aber unklug, grosse Hoffnungen in die Wirksamkeit von Massnahmen zur Stimulierung der aggregierten Nachfrage zu setzen. Erstens reicht der Angebotsschock tiefer und ist hartnäckiger als ursprünglich angenommen. Selbst wenn sich die Lage im Sommer etwas entspannen sollte – was keinesfalls sicher ist –, rechnen Experten mit einem Wiederaufflammen der Ansteckungen im Herbst. Erst wenn ein Impfstoff verfügbar ist und in grossem Mass hergestellt werden kann, können wir zur Normalität zurückkehren. Bis es so weit ist, dürfte es gemäss Schätzungen rund achtzehn Monate dauern, und selbst dies ist mit grosser Unsicherheit behaftet. Zweitens hat in vielen Ländern – gerade in den verwundbarsten – die wirtschaftliche und humanitäre Krise noch gar nicht erst begonnen. Es drohen humanitäre Katastrophen, Migrationsdruck usw. Das Szenario von einigen Jahren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufruhrs ist leider nur allzu realistisch.
In Ausbildungsprogramme investieren
Ein lang dauernder Notstand im Gesundheitswesen bringt ein gravierendes Problem mit sich: ein Missverhältnis zwischen Nachfrage und Angebot. Die Wirtschaft kann nicht einfach so vermehrt die Leistungen bereitstellen, die in der Krise dringend benötigt werden. Auf der anderen Seite herrschen in Sektoren wie Tourismus oder Gastronomie Überkapazitäten. Mit einer Erhöhung der aggregierten Nachfrage lässt sich dieses Missverhältnis nicht mildern. Die Menschen werden nicht mehr Reisen buchen, wenn sie vom Staat zusätzliches Geld bekommen. Es wird entweder gespart oder kurbelt die Nachfrage ausgerechnet dort an, wo das Angebot unelastisch ist. Das Missverhältnis lässt sich mit staatlichen Massnahmen mildern: In Kriegszeiten etwa intervenierte die Regierung und lenkte Ressourcen – Arbeitskräfte und Kapital – dorthin um, wo sie am nötigsten waren. Heute könnte der Staat in grossem Mass in Ausbildungsprogramme für die Jobs investieren, die die Gesellschaft dringend braucht. Viele junge Menschen, die jetzt in den Arbeitsmarkt eintreten, werden keine Stelle finden. Andere müssen fürchten, ihren Job zu verlieren. Junge gehören zudem aus medizinischer Sicht nicht zur Risikogruppe. Mit intensiven Ausbildungsprogrammen liessen sich in kurzer Zeit, vielleicht nur wenigen Wochen, beträchtliche Ressourcen an Arbeitskräften für diejenigen Bereiche schaffen, wo der Engpass am gravierendsten ist, etwa Krankenpflege oder IT. Angesichts der demografischen Trends wäre der Aufbau von Überkapazitäten in diesen Sektoren keine Verschwendung.
Wenn sich der Sturm dereinst gelegt hat, wird uns die Krise ungünstige Nachwirkungen bescheren. Der ein- bis zweijährige Unterbruch im Bildungssystem wird nicht so leicht wettzumachen sein – ein zusätzliches Jahr an Bildung resultiert in einer rund 10%igen Steigerung des Humankapitals und der individuellen Produktivität. Auch was Familien angeht, sind langfristige Auswirkungen abzusehen. In Wuhan ist die Scheidungsrate markant gestiegen, nachdem Paare gezwungen gewesen waren, lange Zeit zusammen in Quarantäne auszuharren. Instabilität im Familienumfeld beeinträchtigt zudem auch die künftigen Generationen. Die Krise dürfte ferner unerwünschte gesellschaftliche Konsequenzen haben. Für viele Familien mit Kindern bedeutet die Schliessung der Schulen eine überproportionale Belastung für die Frauen, was dazu führen könnte, dass sie die Erwerbsarbeit aufgeben. Das wiederum bremst den Trend zu Gleichstellung der Geschlechter. Eine traurige Dividende wird die Verringerung des Altersabhängigkeitsverhältnisses sein. Wie gross die damit einhergehende «Entlastung» für das Rentensystem ausfällt, ist unklar – und wir müssen nun alles daransetzen, dass sie so gering ausfällt wie möglich.
Makroökonomische Massnahmen können heute hilfreich sein, aber sie sind kein Allheilmittel. Der Wohlstand eines Landes wird von der Technologie, seinem Humankapital, seinen Institutionen und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt bestimmt. Von diesen Faktoren wird abhängen, welchen wirtschaftlichen Tribut die Coronakrise letztlich fordert.
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Coronakrise als Angebotsschock
Was die Coronakrise eine Volkswirtschaft kostet, hängt ab von der Technologie, dem Humankapital, den Institutionen und dem Zusammenhalt. Ein Kommentar von Fabrizio Zilibotti.