«Das Grundproblem der Überschuldung ist nicht gelöst»
Bill White, ehemaliger Chefökonom der BIZ, sorgt sich um eine neue Lehman-Krise. Die lockere Geldpolitik helfe nur kurzfristig.

Vor fünf Jahren ist die US-Investmentbank Lehman Brothers kollabiert. Dies war der Anfang der grössten Finanzkrise in siebzig Jahren, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Der ehemalige BIZ-Chefökonom Bill White warnte schon vor der Insolvenz von Lehman vor der Instabilität des Finanzsystems: Die lockere Geldpolitik sorge für eine freizügige Schuldenvergabe, die nach einem Boom zwangsläufig zum «Bust» führen werde. White sieht die nun geplanten Massnahmen für eine striktere Regulierung des Bankensektors als nicht ausreichend, um diesen Boom-Bust-Zyklus zu unterbinden. Die Eigenkapitalvorgaben durch den internationalen Standard Basel III seien wohl noch viel zu niedrig.
Herr White, könnte sich so etwas wie der Kollaps von Lehman Brothers und die nachfolgende Finanzkrise wiederholen? - Ja, es kann wieder geschehen. Und vielleicht nicht in der fernen Zukunft. Das Grundproblem ist geblieben: die massive Anhäufung von Schulden in allen entwickelten Volkswirtschaften. Es zeigt sich immer das gleiche Muster von zu vielen schlechten Krediten über eine lange Zeit mit immer schwächeren Anforderungen für die Kreditvergabe. Zwar wurden viele Massnahmen seit 2007 eingeleitet, um die Dinge unter Kontrolle zu halten. Aber sie hatten meist nur kurzfristige Effekte, etwa die Anstrengungen, das Bankensystem durch Staatshilfe zu retten. Dadurch wurde zwar verhindert, dass sich die Situation verschlechtert, aber es wurde keine Basis für eine nachhaltige Besserung geschaffen. Das fundamentale Problem der Überschuldung ist nicht gelöst. Dies muss aufseiten der Gläubiger und der Schuldner angegangen werden. Doch bisher gab es kaum Schritte in diese Richtung.
Sie sehen also keinen Fortschritt bei der Reduzierung der Verschuldung? - Es gab einen gewissen Fortschritt bei den Banken, weniger in der realen Wirtschaft. Jamie Caruana, der Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, erläuterte in einer Rede, dass in den G-20-Ländern die privaten und die öffentlichen Schulden jetzt 30% höher stehen als zu Beginn der Finanzkrise. Was jetzt noch hinzukommt, ist der Geldfluss in die Schwellenmärkte, der sich seit 2007 beschleunigt hat. Seit zwanzig Jahren hätte die lockere Geldpolitik in den entwickelten Ländern zu einer Aufwertung der Schwellenländerwährungen führen müssen. Diese Länder drucken aber lieber auch Geld, statt eine Aufwertung in Kauf zu nehmen. Das hat zu einer Geldflut in den Schwellenländern geführt. Dort kündigt sich nun das Ende eines weiteren Boom-und-Bust-Zyklus an. Davon hat es seit dem «Greenspan-Put» 1987, als der Fed-Chef Alan Greenspan den Finanzmärkten mit billiger Liquidität ausgeholfen hat, schon viele gegeben.
Was ist der Grund, dass diese Zyklen durch die Politik nicht verhindert werden? - Die Schmerzen wären zu gross. Der politische Wille ist nicht stark genug, die notwendigen Reformen gegen Interessengruppen durchzusetzen. Es ist einfacher für die Politiker und die Zentralbanker zu glauben, dass billiges Geld ausreicht, um das Problem zu lösen. Viele denken wie Ben Bernanke, der eine zu restriktive Geldpolitik als einen Grund für die Depression in den Dreissigerjahren sieht. Er meint, das Fed könne eine Kreditkrise durch freigiebige Liquiditätspolitik lösen. Doch das ist genau das, was uns in diese Situation gebracht hat und nun – mehr oder weniger vorhersehbar – zu einer neuen Krise in den Schwellenländern geführt hat.
Hier bräuchte es also eine stärkere internationale Kooperation? - Die Botschaft des diesjährigen Notenbanktreffens in Jackson Hole lautete, dass die Länder mit einer lockeren Geldpolitik keine Verantwortung für den Effekt auf andere Länder übernehmen müssen. Ähnlich wie in der Eurozone, in der alle Verantwortung den Schuldnern zugeschrieben wird. Dabei haben die Gläubiger zu verantworten, dass sie Kredite vergeben haben. So kümmert sich das Fed bei seiner expansiven Geldpolitik auch nicht, wie sie sich auf die Schwellenländer auswirkt. Denn das Fed meint, dass die Schwellenländer sich einfach durch eine Aufwertung ihrer Währung schützen können. Das ist teilweise richtig, aber die dafür notwendigen Wechselkursbewegungen können zu gross sein und zu Verwerfungen führen. Ich finde es verrückt, dass nicht versucht wird, eine Richtung vorzugeben, die für das gesamte System gut wäre und die jeweiligen Verantwortungen für Schuldner und Gläubiger hervorhebt.
Das Fed argumentiert, dass der monetäre Stimulus hilft, das Wirtschaftswachstum wieder auf die langfristige Trendwachstumsrate zu bringen. Was ist daran falsch? - Das ist, was man sich erhofft. Aber ich bezweifle, dass wir mit der jetzigen Politik auf ein «Trendwachstum» kommen. Wenn man sich auf einen monetären Stimulus verlässt, setzt man voraus, dass der Effekt nicht nur kurzfristig wirkt, sondern dass die dadurch ausgelösten Ausgaben stark und nachhaltig sind. Daran glaube ich nicht. Um ein starkes und nachhaltiges Wachstum zu erreichen, braucht es eine andere Politik.
Und die wäre? - Erstens sollten Länder, die es sich wegen eines Leistungsbilanzüberschusses leisten können, eine expansive Fiskalpolitik betreiben. Bei Deutschland ist mir etwa nicht klar, warum man die Schulden früher als nötig abzahlen will. Ein zweites Instrument sind mehr öffentliche und private Investitionen. Die Infrastruktur ist in vielen Ländern in einem schrecklichen Zustand. Solche Ausgaben sind nützlich, da sie das Wachstum erhöhen. Drittens ist eine klare Schuldenreduzierung notwendig. Es gibt viele Schulden, die niemals zurückgezahlt werden. Banken müssten Schulden abschreiben und danach rekapitalisiert werden. Viertens sind Strukturreformen notwendig. Von meiner Arbeit in der OECD weiss ich, dass hier viele Erfolge leicht erreichbar wären. Viele überschuldete Länder haben aber kein Interesse an Reformanstrengungen, da diese grossteils den Gläubigern zugutekommen. Nach einem Schuldenschnitt wäre es wieder im Interesse des Schuldners, Reformen anzupacken.
Sind die Banken nun besser vor einer Finanzkrise geschützt? - Jedes Papiergeldsystem ohne Deckung, in dem die Banken durch Kredite das Geld schaffen können, kann leicht ausser Kontrolle geraten. Manche Ökonomen haben radikale Wege vorgeschlagen, wie man damit umgehen soll. Zum Beispiel, dass Banken nur noch auf ihre Kernfunktion beschränkt werden – Narrow Banking – oder dass die Kredite zu 100% mit Reserven hinterlegt sein müssen. Doch für solche radikalen Lösungen fehlt der politische Wille. Nach der Krise wurden aber dennoch viele nützliche Massnahmen eingeleitet. Gute Beispiele sind die Vorgaben von Basel III mit Liquiditätsanforderungen, antizyklischen Eigenkapitalregeln und einer maximalen Verschuldungsquote, einer Leverage Ratio.
Reichen die neuen Kapitalanforderungen als Schutz denn aus? - Wir wissen es nicht. Die Anforderungen unter Basel I von 1988 wurden nach den damaligen Eigenkapitalquoten der westlichen Banken gestaltet. Nur den damals sehr grossen japanischen Banken wurde das weitere Wachstum erschwert. Es gab aber keine Analyse, wie viel Kapital tatsächlich notwendig wäre, um etwa einen Bank Run im Ernstfall zu verhindern. Lehman Brothers hatte kurz vor dem Kollaps eine risikogewichtete Eigenkapitalquote von 11%. Auch mit Basel III fehlt weiterhin der analytische Rahmen, um zu bewerten, ob die Kapitalanforderungen ausreichend sind. Meiner Ansicht nach sind auch die neuen Kapitalanforderungen viel zu gering.
Aber eine zu strenge Regulierung bringt auch Nachteile. - Es ist schwierig, zwischen angemessen und unangemessen bewerteten Krediten zu unterscheiden. Exzesse sollen verhindert werden, aber der Optimismus in einer Boomphase ist anfänglich rational und wird erst später irrational. Eine gute Regulierungsmassnahme kann sich daher in eine Massnahme mit einem hohen Verlust an gesellschaftlicher Wohlfahrt verwandeln. Auch das Schattenbankensystem hat sich als Antwort auf die Regulierung gebildet. Je strikter man die Banken reguliert, desto mehr läuft die Kreditvergabe über Schattenbanken. Das Problem mit der Schattenfinanzierung ist ihre zyklische Natur: Sie basiert auf Sicherheiten, die in einer Krise knapp werden. Wenn man aber als sich wiederholende Realität akzeptiert, dass ein Boom immer wieder zu einer Krise führt, muss man entsprechend handeln. Dann braucht es Instrumente für den Regulator, um bei einem schnellen Kreditwachstum und einem steilen Anstieg der Vermögenspreise eingreifen zu können.
Waren die Zentralbanken und die Regulierer durch ihren Glauben an die ökonomischen Modelle vor der Finanzkrise verblendet? - Viele haben an die Richtigkeit ihrer Modelle geglaubt. Es waren aber weniger die Modelle selbst, die zu einer grösseren Leichtfertigkeit geführt haben. Grund war die Erfahrung der Great Moderation, dass in den vergangenen zwanzig Jahren auch bei einem stärkeren Wachstum die Inflation niedrig blieb und nur geringen Schwankungen unterlag. Dazu kamen die Modelle, die dies der guten Arbeit der Zentralbanken zuschrieben. Die Modelle sagten: Wenn die Inflationserwartungen im Griff gehalten werden, gibt es auch keine neue Krise. Dabei kam die geringe Inflation hauptsächlich durch die billige Produktion in China und anderen Schwellenländern – was in den Modellen nicht berücksichtigt wurde. Daher war es für viele Währungshüter unfassbar, dass es zu einer Krise kam. Die Reaktion war zuerst Ableugnung und später die Fortführung der bisherigen Politik des billigen Geldes.
Haben sich mit der Finanzkrise die Ansichten von Ökonomen und in den Zentralbanken geändert? - Die Modelle müssen eigentlich alle überdacht werden. Viel wird auf Konferenzen nun über makroprudentielle Regulierung geredet, um die Systemrisiken des Finanzsystems unter Kontrolle zu bekommen. Es besteht aber wenig Interesse, die makroökonomischen Modelle zu revidieren. Solche Paradigmenwechsel sind immer schwierig. Von der Wissenschaft heisst es, sie würde mit jedem Begräbnis voranschreiten. Menschen sind oft so in ihren Ansichten gefangen, dass auch keine neue Erfahrung diese ändern kann.
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