Das Okunsche Gesetz
Wie aus einer empirischen Untersuchung für den US-Präsidenten eines der einflussreichsten wirtschaftswissenschaftlichen Theoreme entstand.

Zu Beginn eine Einschränkung: Das als Okun’s Law in die Wirtschaftswissenschaft eingegangene Theorem trägt seinen Beinamen zu Unrecht.
Es ist kein unveränderliches Gesetz, sondern eine empirische Beziehung zwischen der Veränderung der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Produktion eines Landes. Die Ergebnisse ändern sich, je nachdem welcher Zeitraum zugrunde gelegt wird und um welches Land es sich handelt. Unabänderlich ist jedoch die Kernaussage: Die Beschäftigung wird viel langsamer auf- oder abgebaut, als es die Schwankung des Wirtschaftswachstums nahelegt.
Im Jahr 1962 berechnete der Ökonom Arthur Okun, dass in den USA für jeden Prozentpunkt des jährlichen realen Wachstums des Bruttoinlandprodukts (BIP) über seinem Potenzial die Arbeitslosenrate nur um ein Drittel Prozentpunkt abnahm. Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bezeichnete das Resultat der Schätzreihe später als bemerkenswerte Neuigkeit. Es habe eine grundlegende Regel der Wirtschaftswissenschaft widerlegt: das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags.
Dieses hätte nahegelegt, dass eine 1%ige Abnahme der Arbeitslosenrate einen unterproportionalen Effekt auf die Produktion ausübe. Okuns Berechnungen kamen indes zu einem anderen Ergebnis.
Allerdings lässt sich das leicht erklären: Für ein Unternehmen verursacht es Kosten, Personal einzustellen, d. h. einzuarbeiten und auszubilden. Zieht die Nachfrage an, reagieren Betriebe deshalb nicht sofort mit Neueinstellungen. Lieber warten sie ab, bis sich Kapazitätserweiterungen aufdrängen. Was nach dem Ende einer Rezession manchen Konjunkturforscher resigniert von einer Jobless Recovery – einer Erholung ohne Stellenaufbau – reden lässt, entspricht meist genau diesem Phänomen.
Im entgegengesetzten Fall, sobald sich also die Nachfrage abschwächt, behalten Unternehmen ihre plötzlich unterbeschäftigten Arbeitnehmer so lange wie möglich. So werden sie in der nächsten Erholungsphase über genügend eingearbeitete Arbeitskräfte verfügen – ohne sich Extrakosten aufbürden zu müssen.
Folglich nimmt die Arbeitslosigkeit nur unterproportional zu, wenn die Produktion sinkt. Vorausgesetzt, der Nachfragerückgang wird als vorübergehend eingestuft.
Im Auftrag von JFK
Okuns Gesetz ist nicht nur kein Gesetz, sondern bei genauerer Betrachtung nicht einmal Kerngegenstand der ursprünglichen Forschungsarbeit. Tatsächlich ist es das Nebenprodukt einer empirischen Untersuchung, die beabsichtigte, das Potenzialwachstum der USA zu messen. Okun führte sie durch, als er als Stabsökonom im Beirat der Kennedy-Regierung tätig war. Das Ziel der Studie entsprach der politischen Stossrichtung der neuen Mannschaft im Weissen Haus.
John F. Kennedy übernahm 1961 das Präsidentenamt, als die USA eine tiefe Rezession durchliefen. In seiner Antrittsrede versprach er: «Ich werde in den nächsten vierzehn Tagen Massnahmen vorschlagen, um eine rasche Erholung zu garantieren und den Weg für ein höheres langfristiges Wirtschaftswachstum zu ebnen.» Es war die Epoche des modernen Keynesianismus und des ungebrochenen Glaubens an die konjunkturpolitische Steuerung durch den Staat. In der kurzen Präsidentschaft von 1961 bis 1963 pumpte die Kennedy-Administration Milliarden via Regierungsbehörden in die Wirtschaft. Sie überzeugte die Zentralbank davon, die Zinsen zu reduzieren. Stets machte JFK klar, dass er die Staatsausgaben nicht nur so lange hoch halten würde, bis die Rezession beendet sei, sondern bis die wirtschaftliche Erholung auch wirklich gesichert sei. Der Anspruch erinnert an die gegenwärtigen Versprechen der US-Notenbank.
Zentral war sein Plädoyer für einen Abbau der Arbeitslosigkeit. Sie war auf 6,5% geklettert, damals ein Horror. Heute ist diese Rate die akzeptierte Schwelle, ab der die Zentralbank ihre konjunkturelle Stimulierung beenden will. Okun ging in seiner Analyse 1962 davon aus, dass eine 4%ige Arbeitslosenrate mit dem von ihm gesuchten Potenzialwachstum der Wirtschaft im Einklang stehe. Er bezog sich in der Analyse direkt auf wirtschaftspolitische Programme, mit denen die Quote auf 4% zurückgeführt werden sollte.
In seinen Berechnungen tauchte bald eine feste Relation auf zwischen Produktionswachstum und Arbeitslosigkeit: 3 zu 1. Sie wurde später zum viel beachteten Gesetz. Die Analyse umfasste allerdings nur einen begrenzten Zeitraum. Sie spannte sich vom zweiten Quartal 1947 bis zum vierten Quartal 1960. Das sind gerade mal 55 Beobachtungsperioden – nicht sehr viele für eine ökonometrische Zeitreihenanalyse, die in die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft eingehen sollte.
Die Relationen ändern sich
Die ursprünglich gemessene numerische Relation ist heute überholt. Der Nobelpreisträger Paul Krugman beispielsweise geht für die USA von 2:1 aus: Eine Zunahme der Produktionslücke um 1 Prozentpunkt (Pp) hat einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um einen halben Prozentpunkt zur Folge und nicht um ein Drittel Prozentpunkt, wie Okun kalkulierte. Das ist keine Überraschung, bezieht sich die heutige Schätzung doch auf einen um ein halbes Jahrhundert längeren Zeitraum. Der IWF kommt zum gleichen Schätzergebnis, einem Koeffizienten von –0,5: 1 Pp Wachstum über Potenzial verringert in den USA die Arbeitslosigkeit um 0,5 Pp.
Die IWF-Forschungsabteilung hat ausserdem zwanzig Industrieländer seit dem Jahr 1980 untersucht. Sie kommt zum Ergebnis, dass fünfzig Jahre nach seiner Lancierung die Kernaussage von Okuns Gesetz immer noch gültig ist: In allen Ländern existiert eine stabile inverse Relation zwischen Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Volkswirtschaften sind indes beachtlich.
Wenn in der Schweiz beispielsweise das Wirtschaftswachstum 1 Pp unter das Potenzial fällt, steigt daraufhin die Arbeitslosenrate nur um 0,2 Pp. Der IWF argumentiert mit dem hohen Anteil ausländischer Arbeitskräfte in der Schweiz, was wie ein Ventil wirke. Im Fall Japans sorgte die weite Verbreitung lebenslanger Stellen dafür, dass der Koeffizient so niedrig ausfällt. Dass solche Stellen immer rarer werden, zeigt der Okunsche Koeffizient ebenfalls: Er fällt höher aus, sobald nur die Zeit ab der Mitte der Neunzigerjahre berücksichtigt wird.
In Spanien sind die Auswirkungen am grössten: Nimmt die Unterauslastung des BIP um 1 Pp zu, steigt daraufhin die Arbeitslosenrate um 0,85 Pp, also fast im gleichen Masse. Warum das so ist, vermögen die IWF-Experten nicht vollständig zu erklären. Sie weisen darauf hin, dass Rezessionen in Spanien überdurchschnittlich lange dauern und grossen Schaden verursachen. Dass ein hoher gesetzlicher Kündigungsschutz garantiert werde, nütze den Arbeitnehmern wenig, sobald die Arbeitgeber pleitegingen.
Bedingt prognosetauglich
Okuns Gesetz wird heute vor allem bei der Erstellung von Wirtschaftsprognosen verwendet. Die recht einfache Gleichung, wenn auch statistisch gegenüber dem Original verfeinert, erlaubt Aussagen über den künftigen Verlauf der Arbeitslosigkeit.
Viele Ökonomen trauen der Regel trotzdem nicht so recht. Sie widersprechen vor allem der Annahme, dass die Beziehung linear verlaufe. Je nach dem wirtschaftspolitischen Willen der Regierung kann sie sich verändern, argumentieren sie. So zeigte sich in der Rezession von 2008/09, wie der Einsatz von Kurzarbeit beispielsweise in der Schweiz und in Deutschland dafür sorgte, dass der scharfe Produktionseinbruch eben nicht zu Massenarbeitslosigkeit führte. Die Regierungen hatten sich spontan für dieses konjunkturpolitische Instrument entschieden und widerlegten damit die Vorhersagekraft des Okunschen Gesetzes. Wohl auch deshalb lagen damals viele Prognosen über die Folgen der Rezession so daneben.
Anderseits dürfte gerade die Kalkulation der Risiken am Arbeitsmarkt mithilfe der Okunschen Überschlagrechnung dazu geführt haben, entschieden gegen einen Anstieg der Arbeitslosigkeit vorzugehen. Als Werkzeug zur Politikberatung erfüllt sie also ihren Zweck. Okun ist wieder populär. Und das Gesetz heute mehr im Gespräch als seine grosse Schwester, die Phillips-Kurve, die das Verhältnis von Arbeitslosigkeit und Teuerung untersucht. Aber das liegt nur daran, dass sich heute niemand Sorgen über eine zu hohe Inflation macht. In einigen Jahren kann das wieder ganz anders aussehen.
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