«Es gibt in dieser Welt nur zwei Tragödien», schrieb einst Oscar Wilde. «Die eine ist, nicht zu kriegen, was man sich wünscht, und die andere ist, es zu kriegen.» Das amerikanische Federal Reserve Board nähert sich derzeit zentimeterweise seinem Ziel für die Binnenwirtschaft an und steht nun unter wachsendem Druck, die Geldpolitik zu normalisieren. Doch die Binnenwirtschaft ist inzwischen nicht mehr der einzige Gesichtspunkt, der die Politik des Fed bestimmt. Im Gegenteil, Amerikas Währungshüter haben ihr neues Mandat bereits mehr oder weniger eindeutig anerkannt: die Förderung der globalen Finanzstabilität.
Der Kongress hat das Fed 1913 als unabhängige Behörde geschaffen, die ihre Aufgabe, im Land für Preisstabilität und weitestgehende Vollbeschäftigung zu sorgen, abseits der Parteipolitik wahrnimmt. Die Rolle des Fed hat sich im Laufe der Zeit ausgeweitet, und es verfolgt, wie viele Notenbanken in anderen entwickelten Ländern auch, seit der globalen Finanzkrise zunehmend eine unkonventionelle Geldpolitik – mit quantitativer Lockerung, Credit Easing, Forward Guidances usw.
Diese unkonventionelle Politik hat sich inzwischen zur Normalität entwickelt. Eine Generation von Weltmarktteilnehmern kennt nur noch eine Welt niedriger (oder sogar negativer) Zinsen und künstlich in die Höhe getriebener Vermögenspreise.
Es besteht Anlass zu Zinserhöhungen
Doch das duale Mandat des Fed bleibt in Kraft. Und während die jüngsten Äusserungen der Notenbank auf anhaltend niedrige Zinsen hindeuten, zeigen die wirtschaftlichen Rahmendaten in den USA – namentlich diejenigen, die für das Fed angeblich besonders wichtig sind –, dass eindeutig Anlass zu weiteren Zinserhöhungen besteht.
Man betrachte zunächst einmal das Beschäftigungsmandat des Fed. Die Arbeitslosenquote liegt inzwischen auf nur noch 5%, die Zahl neuer Stellen nimmt stark und beständig zu, und die Anträge auf Arbeitslosenunterstützung gehen seit mehreren Jahren deutlich zurück.
Was das Preisstabilitätsmandat angeht, so hat der Zusammenbruch des Ölpreises die Gesamtentwicklung natürlich beeinträchtigt, doch der Trend bei der Kerninflation (ohne Energie) legt nahe, dass das Fed der Entwicklung hinterherhinkt. Der Kernindex der Verbraucherpreise ist auf dem höchsten Stand seit der Krise, nachdem er im Februar um 2,3% und im März um 2,2% gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist.
Inflationsdruck steigt
Zudem dürfte der Inflationsdruck im weiteren Jahresverlauf zunehmen. Die Verschuldungsquote der privaten Haushalte bewegt sich inzwischen auf ein Niveau zu, wie es die USA zuletzt in den Neunzigerjahren erlebten; damit haben die Verbraucher jede Menge Spielraum, um ihre Kreditaufnahme zu erhöhen. Zugleich dürfte die mit dem Rückgang des Ölpreises verbundene Bremswirkung auf die Inflation mit der Stabilisierung der Preise nachlassen, und die jüngste Dollarschwäche dürfte die Inflation zusätzlich nach oben treiben.
Doch diese Fortschritte zu Hause bringen das Fed in eine schwierige Lage. Es ist faktisch gefangen zwischen einer Volkswirtschaft, die eine Normalisierung zunehmend rechtfertigt, und dem Interesse der anfälligen Weltmärkte – in denen rund 60% der internationalen Geschäfte in Dollar abgewickelt werden – an weiterhin niedrigen Zinsen.
Die Signale von den Finanzmärken beeinflussen die Entscheidungen des Fed zunehmend. Jeder Hinweis, dass es die Zinsen schneller oder früher als erwartet anheben könnte, ruft Ängste vor restriktiveren Finanzierungsbedingungen hervor und führt zu drastischen Massnahmen zur Risikoreduzierung. Nach einem mehrjährigen Bullenmarkt in Aktien und Festverzinslichen, der durch genau die Geldpolitik begünstigt wurde, die das Fed jetzt hinter sich zu lassen sucht, besteht keine Unterstützung durch günstige Bewertungen, um diese Reaktion abzufedern. Ohne ein wirklich robustes globales Wachstum, das sich in nächster Zeit aber kaum einstellen dürfte, sind die Finanzmärkte zur Stützung der Preise auf eine extrem lockere Geldpolitik angewiesen.
In einer Rückkoppelungsschleife
Die Zinsentscheidung des Fed im März und die Anmerkungen von Fed-Chefin Janet Yellen zeigen dies in mustergültiger Weise. Dem Fed bereitete anscheinend der Ausverkauf an den globalen Finanzmärkten im Januar und Februar, der überwiegend durch Befürchtungen über eine weitere Straffung der Geldpolitik angetrieben wurde, Bauchschmerzen.
Dies ist merkwürdig, weil die Auswirkungen von Änderungen des Finanzvermögens (Aktien und Anleihen) auf den Konsum gering sind. Deutlich wichtiger sind Änderungen der Häuserpreise, die sich aber nicht abgeschwächt haben. In ähnlicher Weise haben Änderungen der Kapitalkosten – einschliesslich der Eigenkapitalkosten – nur geringe Auswirkungen auf die Unternehmensinvestitionen.
Anders ausgedrückt: Vom Standpunkt seines dualen Mandats aus betrachtet sollte sich das Fed keine allzu grossen Sorgen über die Marktvolatilität machen, selbst wenn sie eine Grössenordnung annimmt wie im Januar und Februar. Doch alle Signale, die Yellen und das Fed bisher ausgesandt haben, zeigen, dass sich die Entscheidungsträger genau darüber Sorgen gemacht haben. Und die Kurserholung an den Märkten, die sich einstellte, nachdem das Fed das Tempo der Zinserhöhungen gedrosselt hatte, hat nur dazu beigetragen, die Rückkoppelungsschleife zwischen der Wahrscheinlichkeit von Zinserhöhungen in den USA und der Volatilität am Weltmarkt zu verstärken.
Langfristige Risiken
Diese Rückkoppelungsschleife hat sich zu einem neuen Mandat für das Fed verfestigt, auf das andere globale Entscheidungsträger immer offener verweisen. Chinas stellvertretender Finanzminister hat Yellen kürzlich für ihre Äusserungen und ihren vorsichtigen Ansatz, der «uns mit berücksichtigt», gelobt.
Die Implikationen sind besorgniserregend. Wenn Yellen und das Fed sich den Finanzmärkten verpflichtet fühlen, wird das Risiko steilerer Zinserhöhungen zu einem späteren Zeitpunkt steigen, weil das Fed zunehmend der Inflationsentwicklung hinterher ist.
Davon abgesehen sind wichtige längerfristige Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Angesichts der niedrigen Ausgangswerte und der offensichtlichen Vorsicht des Fed dürften die Nominalzinsen bis zur nächsten amerikanischen Rezession kaum besonders weit steigen. Und ohne die traditionelle Zinssenkungsmunition könnte der nächste Abschwung länger dauern als sonst, was eine weitere Abhängigkeit von einer unkonventionellen Geldpolitik bedingt – möglicherweise noch über die negativen Nominalzinsen hinaus, die derzeit in Europa und Japan bestehen.
Unabhängigkeit steht auf dem Spiel
Tatsächlich hat Yellens Vorgänger Ben Bernanke derartige Möglichkeiten vor kurzem ins Gespräch gebracht, und zwar besonders die Option einer dauerhaften Ausweitung der Geldmenge (das sogenannte Helikoptergeld). Sie könnte in einer Anzahl von Formen umgesetzt werden: als quantitative Lockerung in Verbindung mit einer expansiven Fiskalpolitik (etwa höheren Infrastrukturausgaben), über direkte Geldtransfers an die Regierung oder, was besonders radikal wäre, über direkte Geldtransfers an die privaten Haushalte.
Eine derart extreme Politik ist bislang nur eine theoretische Möglichkeit, und ihre Umsetzung würde vermutlich dazu führen, dass der Kongress verstärkt seine Kontrollfunktion wahrnimmt. Trotzdem legt der Druck zur Unterstützung der globalen Finanzmärkte und anderer Volkswirtschaften nahe, warum das Problem diskutiert wird.
Nachdem das Fed an seiner Sitzung vom April erneut beschlossen hat, die Zinsen nicht zu erhöhen, dürfte sich sein Dilemma im weiteren Jahresverlauf nur noch intensivieren: Soll es die Geldpolitik im Einklang mit den wirtschaftlichen Rahmendaten in den USA normalisieren oder dem Druck der globalen Finanzmärkte nachgeben? Ersteres wird mit Sicherheit eine hochgradig volatile Zukunft einläuten; Letzteres würde das neue Mandat des Fed weiter verfestigen – ein Mandat, das jeden Anschein der Unabhängigkeit der Zentralbank untergräbt.
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Das riskante neue Mandat des Fed
Die US-Notenbank ist gefangen zwischen einer Volkswirtschaft, die eine Zinsnormalisierung rechtfertigt, und dem Interesse der Weltmärkte an weiterhin niedrigen Zinsen. Ein Kommentar von Alexander Friedman.