Die Europäische Union hat sich in der aktuellen Pandemiekrise als unvorbereitet und handlungsunfähig erwiesen. Doch je unnötiger eine Institution, desto eher wächst sie – wie das Parkinson’sche Gesetz lehrt, insbesondere in seiner zu einem «Gesetz vom Vakuum» verallgemeinerten Fassung: «Action expands to fill the void created by human failure» – die durch menschliches Versagen entstandene Leere wird stets durch neue Tätigkeit ausgefüllt.
Die Nationalstaaten sind zwar deutlich handlungsfähiger, doch das mehrt freilich auch den durch sie verursachten Schaden. Besser vorbereitet war kaum ein Nationalstaat in Europa, viele waren einfach nur billiger unvorbereitet, was immerhin deutlich besser ist als die absurd teure Unvorbereitetheit der EU, doch auch der Schweiz.
Was macht die Heuschrecke, die nicht vorgesorgt hat? Es scheint ihr alternativlos, die Ameisen zu bemühen. Die Erhöhung der direkten Umverteilung wird nun lautstark eingefordert, doch die Grenzen dieser Umverteilung sind schon lange erreicht. Eine schwindende Minderheit der Steuerzahler trägt einen wachsenden Grossteil der Steuerlast – und entzieht sich den Hochsteuerstaaten wie Deutschland und Frankreich zunehmend durch Auswanderung und Einkommensaufgabe. Dass die EU nicht über einen eigenen Fiskus verfügt, mindert also nur den Schaden, den sie anrichten kann, nicht aber ihren Handlungsspielraum: Der ist in den meisten Nationalstaaten ebenso limitiert, da die Fiskalpolitik weitgehend ausgeschöpft ist.
Eurobonds gibt es schon lange
Doch Fiskalpolitik ist ohnehin überholt. Die moderne Politik hat sich längst über solche Beschränkungen stationären Banditentums hinweggesetzt. Zunächst hatte man Staatsschuld als Vermögenswert erkannt, was in einem Umfeld künstlicher Zinssenkung eine Explosion der Schulden erlaubte. Nationalstaaten sind bei ihrer Verschuldung nun nur noch durch die Markteinschätzung der kumulierten Steuermoral aller ihrer künftigen Bürger beschränkt. Da bislang die Zahl der Lebenden im Vergleich zu den Ungeborenen stets verschwindend gering war, ist der Hebel entsprechend gross. Die EU erweitert diesen Spielraum ein wenig, indem sie mit dem Bluff operiert, ein Schuldnerverband sei so stark wie seine stärksten Mitglieder. Die nun vorerst symbolisch abgelehnten Eurobonds gibt es schon lange: Die Europäische Investitionsbank begibt Anleihen, die durch ihre Eigentümer – die Nationalstaaten – «besichert» sind.
Doch auch diese Umverteilung von künftigen Steuerzahlern zu heutigen Steuerkonsumenten ist beschränkt. Irgendwann drohen Fortpflanzungsverweigerung und Steuerentziehung auf nationaler Ebene, Konflikte innerhalb von Schuldnerverbänden auf internationaler Ebene und Kaufenthaltung der Märkte für die vermeintlichen Vermögenswerte.
Auch die erweiterte Fiskalpolitik auf Kosten künftiger Generationen ist mittlerweile überholt. Die Geldpolitik ist an ihre Stelle getreten. Je mehr sich die Realität den Modellen der Modern Monetary Theory annähert, einer Neufassung der staatlichen Theorie des Geldes, desto eher stimmt deren Analyse und scheinen deren Schlüsse alternativlos. Die Bevölkerung hat diese neue Prämisse schon weitgehend angenommen. Wie der Staat per Dekret den Wirtschaftsbetrieb lahmlegen kann, soll er auch per Dekret den Einkommensausfall entschädigen. Mit Milliarden wird schon lange jongliert, nun werden wir uns an die Billionen gewöhnen.
Hier hat die Europäische Union ihren letzten Trumpf. Der Euro war nie nur neutrale Währung zur Erleichterung des Handels, sondern ist wie der Dollar auch politisches Instrument derjenigen, die seine Schöpfung kontrollieren. Diese Geldschöpfung erlaubt, die staatlichen Schuldtitel vor der Kaufenthaltung der Märkte zu bewahren und damit die Schuldhebel nochmals zu verlängern. Sobald die Staatsschulden aber nicht mehr durch Erwartung steigender Steuererlöse gedeckt sind – wobei es sich aus demografischer Perspektive schon lange um eine kollektive Illusion handelt –, handelt es sich bei der Monetisierung der Schuldtitel durch Zentralbanken um ungedeckte Geldausweitung.
Diese «erweiterte» Geldpolitik geht erstaunlich lange gut. Doch gewöhnt man sich einmal an dieses Instrument, muss die Dosis laufend erhöht werden – bis zur «grenzenlosen» Liquiditätszusicherung an die Märkte. Diese hat kürzlich Fed-Präsident Jerome Powell verkündet. Die Europäische Zentralbank war ihm da schon lange voraus, und genau das dürfte ihr Problem werden. «Whatever it takes» hatte Mario Draghi schon 2012 verkündet und damit das letzte Pulver verschossen. Das Fed manövriert sich nun wieder in die Nullzinsfalle, doch die EZB sitzt dort schon lange fest.
Geldschöpfung in der Nullzinsfalle aber wird zum Währungswettlauf. Der grösste Erfolg des Euros ist der Mangel an Alternativen: Unter Blinden ist der Einäugige König. Neben Dollar und Yen reicht es zum Klassenzweiten. Europa besitzt zudem ein wertvolles Asset: die am besten regierbaren und zuverlässigsten Steuerzahler der Welt, besonders die Deutschen. Ungedeckte Geldschöpfung bedeutet Umverteilung von den Sparern zu den Erstempfängern der Liquidität und zu denjenigen, die über die Finanzmittel, Kreditlinien, Lizenzen und Kenntnisse verfügen, die Geldpolitik zu ihren Gunsten zu hebeln. Dieser Prozess ist schleichend, von den wenigsten verstanden, erhöht daher nur den Druck auf die Politik, Ungleichheit zu mindern, wodurch die gesamte Spirale – von der ausgeschöpften Fiskalpolitik zur Geldpolitik – aber nur weitergetrieben und legitimiert wird.
Krisenartig, also plötzlich und selbstverstärkend, ist schliesslich nur das potenzielle Ende einer Währung: die Flucht daraus. Dieses Schicksal wird den Euro wohl nicht so bald, aber dann womöglich überraschend ereilen. Der Dollar ist immerhin Weltwährung und damit Standard für Schuldner, die in ihrer eigenen Währung nicht genügend Kredit erhalten. So nimmt derzeit trotz grenzenloser Dollarschöpfung im Helikoptermodus die Nachfrage nach Dollar kurzfristig noch eher zu. Irgendwann wird das gewiss zu einer Ablösung der Weltwährung Dollar führen, denn das nun relativ gestärkte Asien wird nicht ewig diese moderne Form von Tributen zahlen wollen: Umverteilung durch Geldschöpfung von den ausseramerikanischen Dollar-Letztempfängern zu den Erstempfängern. In Hongkong beginnen gerade Experimente mit offiziellen Stablecoins – digitalen Währungen mit Kursbindung an einen Währungskorb.
SNB zunehmend im Dilemma
Die Nachfrage nach Euro folgt weitgehend der Nachfrage nach Exporten aus der Eurozone. Auch in diesem Bereich, nicht nur in der Deckung der Euroschulden, spielt Deutschland eine überproportionale Rolle. Allein der Tourismuseinbruch dürfte den Euro unter Druck setzen. Wenn die Geldschöpfung einmal die globale Nachfrage nach Euro relativ zu anderen, ebenfalls aufgeblähten Währungen übersteigt, wächst das Risiko eines Wechselkurseinbruchs, der zum Selbstläufer werden kann. Die EU wird in einer Interventionsspirale mit Kapitalverkehrskontrollen reagieren, die ihre Basis als internationaler Produktionsstandort weiter unterminieren.
Das Dilemma der Schweizerischen Nationalbank wird also grösser werden, der Druck könnte bald explosiv sein. Die EU-Europäer sollten darauf hoffen, dass der Franken nicht dem Euro folgt. Dann bliebe die Hoffnung, dass Schweizer Investoren helfen können, die Produktionsstruktur im Euroraum nach einer Währungskrise aufzufangen. Eine solche Krise müssten wir dann nicht fürchten, sondern als eine Form des nötigen Schuldenschnitts erkennen – und es gäbe weit ungerechtere und schädlichere Formen.
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