Die Reaktion von Öffentlichkeit und Medien ist einhellig: Die geplante grosse Koalition in Deutschland hat sich auf den gemeinsamen Nenner «Wohltaten für alle» geeinigt. Nun könnte man meinen, dass das schon schlimm genug ist. In Wirklichkeit ist es aber noch weit schlimmer als gedacht. Statt die einzelnen Vereinbarungen der Grosskoalitionäre zu beurteilen, also von den Massnahmen auf die Wirkung zu schauen, hier ein Blick anders herum: Was müsste eine Regierung eigentlich tun, um die Probleme langfristig zu lösen, und wie sieht die Koalitionsvereinbarung daran gemessen aus? Dabei vergeben wir Punkte. Es gibt einen Punkt für eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag, die in die richtige Richtung geht. Null Punkte gibt es, wenn ein Thema nicht oder nur unzureichend angegangen wird, und einen Punkt Abzug, wenn die Massnahmen sogar in die falsche Richtung gehen, Probleme also vergrössern, statt sie zu verringern. Hier der Faktencheck:
1. Bereinigung des Schuldenbergs in Europa
Worum geht es? Die Eurokrise ist im Kern eine Verschuldungskrise von Staaten und vor allem Privatsektoren in Europa. Nur wenn das Problem der übergrossen Schulden geordnet angegangen wird, kann Europa auf den Wachstumspfad zurückfinden. Mögliche Ansatzpunkte wären ein Schuldentilgungsfonds oder eine geordnete Schuldenrestrukturierung.
Was ist geplant? Im Vertrag von CDU, CSU und SPD wird das Thema ausgeklammert. Es wird gesagt, was nicht gemacht wird (z.B. Eurobonds), aber eine Lösungsstrategie für die entscheidende Frage, die zudem mit erheblichen potenziellen Vermögensverlusten für Deutschland verbunden ist, bleibt aus.
Fazit: Wie auch schon im Wahlkampf scheut sich die Politik, dem Wähler die Wahrheit zu sagen. Vermutlich wird die jetzige Strategie fortgesetzt, faktisch wird eine Sozialisierung der Schulden über den Umweg der Bankenunion stattfinden. Das Problem dabei: Die Höhe der Kosten für Deutschland bleibt unbestimmt, und es gibt wenig Möglichkeiten, im Gegenzug in den Krisenländern Reformen einzufordern.
Ein Punkt Abzug: –1
2. Unbezahlbare Versprechen kassieren
Worum geht es? Die Versprechen für Renten, Pensionen und Gesundheitsversorgung einer immer älter werdenden Gesellschaft sind nicht finanzierbar. Laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich wird die Staatsverschuldung Deutschlands in den nächsten dreissig Jahren auf bis zu 400% des BIP steigen, wenn weitergemacht wird wie bisher. Die Antwort kann nur sein: längere Lebensarbeitszeit und geringere Altersbezüge.
Was ist geplant? Soziale Wohltaten, wohin man nur schaut: Mütterrente und Lebensleistungsrente gehen in die falsche Richtung; eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit als Abkehr von der Rente mit 67 und zugleich mehr Leistungen. Eine Fortsetzung der untragbaren Politik zulasten künftiger Generationen. Schon die Rentner des Jahres 2030 werden davon nichts mehr haben, aber heute viel dafür bezahlen.
Fazit: Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte. Ja, die Alten sind die grösste Wählergruppe.
Ein Punkt Abzug: –1
3. Effizienz des Staats erhöhen
Worum geht es? Neben einer Verringerung der Ausgaben für das Sozialversicherungssystem ist die Verbesserung der Effizienz des öffentlichen Sektors ein wichtiger Schritt, um den Anteil des Staats an der Gesamtwirtschaftsleistung zu senken und Wachstumspotenzial freizusetzen.
Was ist geplant? Der Staat wird sich in Zukunft eher mehr einmischen als weniger – und preist das an als vermeintlich richtige Antwort auf das Versagen der freien Wirtschaft (Mietpreisregulierung als Stichwort). Eine Forderung nach Reduktion von staatlicher Bürokratie und Doppelarbeit findet sich jedenfalls nicht im Vertrag. Eine Neuordnung – besser gesagt Entflechtung – der Länder-Bund-Finanzbeziehungen wäre zumindest ein erster Schritt.
Fazit: Kein echtes Thema für die Koalitionäre.
Null Punkte: 0
4. Das Arbeitskräftepotenzial erhöhen
Worum geht es? Die Erwerbsbevölkerung in Deutschland schrumpft. Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren beschleunigen und vielfältige Probleme aufwerfen. Nur wenn wir rasch gegensteuern, können wir einen Wohlstandsverlust verhindern und das Sozialsystem einigermassen erhalten. Dies umfasst: längere Lebensarbeitszeit, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, mehr qualifizierte Zuwanderung und erfolgreiche Integration.
Was ist geplant? Die Frauenquote mag ein Signal sein, die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen. Viel bedeutsamer sind jedoch gute Kinderbetreuungsangebote (nicht nur Menge, sondern vor allem Qualität) und ein Anreiz, nach der Geburt der Kinder möglichst schnell wieder in das Berufsleben einzusteigen. Besser wäre zudem eine Mütterquote statt einer Frauenquote, weil Mütter weitaus mehr benachteiligt sind. In der Zuwanderung ist ein Fokus auf Qualifikation und Integration nötig. Der Koalitionsvertrag verfehlt das Thema völlig. Weder gibt es eine gezielte Initiative, qualifizierte Zuwanderung zu fördern, z.B. nach kanadischem Vorbild, noch ist die doppelte Staatsbürgerschaft hilfreich. Kanada ist deshalb so erfolgreich in der Einwanderungspolitik, weil beide Seiten, das aufnehmende Land und die Zuwanderer, es als Lebensentscheidung sehen. Doppelte Staatsbürgerschaft ist da wie «halb schwanger».
Fazit: Das Thema findet sich faktisch nicht im Vertrag der Koalitionäre.
Null Punkte: 0
5. In Bildung investieren
Worum geht es? Ein Land wie Deutschland kann nur dann dauerhaft seinen Wohlstand sichern, wenn wir eine überdurchschnittlich gute Ausbildung der nachfolgenden Generation sicherstellen. Trotz der Verbesserung in den Pisa-Ergebnissen hängt Deutschland in den schulischen Leistungen weit hinter den Ländern Asiens zurück, auch hinter Finnland und Kanada. Gerade die Leistungen von Schülern aus Einwandererfamilien bleiben in weiten Teilen zurück, was bedingt durch den steigenden Anteil dieser Gruppe an der Grundgesamtheit das Problem verstärkt. Auf Ebene der Universitäten sehen wir unzureichendes Interesse und Qualifikation für naturwissenschaftliche Fächer. China bildet pro Jahr mehr als zwei Millionen Ingenieure aus.
Was ist geplant? Es gibt etwas mehr Geld für die «Exzellenzförderung» und Ideen für regionale Verbünde von Hochschulen und Universitäten. Kein Programm zur Förderung in den Schulen, keine Idee zur Abschaffung der Zerfaserung des Schulsystems entlang von Bundesländergrenzen.
Fazit: Das Thema wird faktisch nicht angepackt. Angesichts der Langzeitfolgen und auch der Zeit, bis Massnahmen überhaupt wirken, fatal.
Null Punkte: 0
6. In den Kapitalstock investieren
Worum geht es? Seit Jahren investieren Staat und Unternehmen in Deutschland nicht ausreichend in Infrastruktur sowie Maschinen und Anlagen. Die staatlichen Investitionen liegen deutlich unter denjenigen anderer Länder Europas. Beides – gute Infrastruktur und moderne Anlagen – ist unerlässlich, um angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung die Produktivität zu steigern und den Wohlstand zu erhalten.
Was ist geplant? 5 Mrd. € mehr für Verkehrsinfrastruktur, verbunden mit Geldbeschaffung durch Maut auf Pkw und bei Lkw auch abseits der Autobahnen. Es gibt keinen Investitionsanreiz für Unternehmen durch Umbau des Steuersystems zugunsten von Investitionen und zulasten von Gewinnausschüttung.
Fazit: Die 5 Mrd. € sind der sprichwörtliche Tropfen auf den heissen Stein. Angesichts der rund 50 Mrd. € für soziale Wohltaten ist das für die nachfolgenden Generationen ein echter Schlag. Wir geben immer mehr für Konsum und immer weniger für Investitionen aus.
Das ist so schlecht – ein Punkt Abzug: –1
7. Sicherung der industriellen Basis/Rohstoffversorgung
Worum geht es? Eine moderne und rohstoffarme Gesellschaft wie die deutsche braucht auch in Zukunft Zugang zu wichtigen Ressourcen zu einem bezahlbaren Preis. Dabei geht es um die Energieversorgung, aber auch um seltene Rohstoffe, die auf den Weltmärkten bezogen werden. Zeitgleich sinken in den USA die Energiekosten dank Fracking signifikant, was zu einem erheblichen Wettbewerbsnachteil für die deutsche Industrie wird. Beispielhaft sei der Entscheid von BASF genannt, vor diesem Hintergrund in den USA zu investieren.
Was ist geplant? Zum Thema Sicherung der Rohstoffbasis findet sich nichts im Koalitionsvertrag. Zum Thema Energiewende ist festzuhalten, dass es bei kleineren Korrekturen bleibt, der Kurs der Belastung von Wirtschaft und Bürgern jedoch faktisch fortgesetzt wird. Da die Kosten auf bis zu 1 Bio. € geschätzt werden, ist das keine Nebensächlichkeit – vor allem wenn woanders die Energiekosten sinken. Das Verbot des Fracking in Deutschland unterstützt diese Divergenz zusätzlich.
Fazit: Ein Versagen der Politik auf ganzer Linie. Zyniker meinen, dass auf diesem Weg der deutsche Aussenhandelsüberschuss beseitigt werden soll, damit wir nicht mehr im Kreuzfeuer der Kritik stehen.
Das ist so schlecht – ein Punkt Abzug: –1
8. Globale Kooperation
Worum geht es? Die Nachwirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise können nur durch globale Kooperation gelöst werden. Überschussländer wie China, Japan und auch Deutschland müssen mehr importieren, um es den Defizitländern zu erleichtern, ihre Schulden zu begleichen. Derzeit besteht jedoch eher die Gefahr, dass sich bestehende Ungleichgewichte verstetigen oder einzelne Länder gar versuchen, durch eine bewusste Abwertung der eigenen Währung Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Das jüngste Beispiel ist Japan, das durch drastische Verbilligung des Yens versucht, die eigene Wirtschaft zu stimulieren. Die Wirkungen dieser massiven Wechselkursverschiebung wird die deutsche Wirtschaft in den kommenden Monaten zu spüren bekommen.
Was ist geplant? Zu diesen Themen findet sich nichts Relevantes im Koalitionsvertrag. Die deutsche Politik geht weiter davon aus, dass man sich nur um sich selbst kümmern muss.
Fazit: Hier wird es für die neue Regierung in den kommenden Jahren ziemlich böse Überraschungen geben. Unvorbereitet.
Ein Punkt Abzug: –1
9. Innovation fördern
Worum geht es? Innovationen können und werden eine wichtige Rolle für die nächste wirtschaftliche Entwicklungswelle spielen. Doch dafür müssen innovative Gründungen attraktiver gemacht werden. Als Gesellschaft müssen wir Innovation und Unternehmensgründung erleichtern und ein positives Klima dafür schaffen.
Was ist geplant? Die Koalition plant eine «strategische Innovationspolitik» für wichtige Märkte wie den Maschinenbau. Ausserdem sollen die Breitbandversorgung und die IT-Sicherheit verbessert werden.
Fazit: Wenigstens etwas. Breitband ist nicht wirklich revolutionär, sondern letztlich ein Nachholen dessen, was im Ausland schon längst funktioniert. «Strategische Innovationspolitik» klingt nach staatlicher Steuerung und ist zudem eher rückwärtsgewandt, wenn sie an existierenden Industrien ansetzt. Wo sind da die Zukunftsthemen? Wie die Technologiefeindlichkeit der Gesellschaft überwunden werden soll, wird gar nicht erst angesprochen.
Null Punkte: 0
10. Finanzsystem stabilisieren
Worum geht es? Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Folge einer überbordenden Verschuldung des Privatsektors, gefördert von einem Bankensektor, der deutlich zu gross ist für die Bedürfnisse des Privatsektors. Erforderlich ist eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Aufgaben des Bankensystems – die effiziente Allokation von Ressourcen zur Förderung der Realwirtschaft –, verbunden mit einer Verkleinerung des Sektors sowie zugleich einer Stärkung der Eigenkapitalausstattung.
Was ist geplant? Die Koalition hält an der Idee einer Finanztransaktionssteuer fest. Es fehlt jeder Hinweis zur Neugestaltung des Finanzsystems und zur erforderlichen Rekapitalisierung (auch deutscher) Banken.
Fazit: Die Finanztransaktionssteuer ist ein schönes Beispiel für populistische Ideen, die in letzter Konsequenz nicht die treffen, die vordergründig damit gemeint sind. Die Grossinvestoren weichen auf andere Märkte aus, die ohnehin mageren Renditen der kleinen Investoren werden zusätzlich geschmälert. Das Thema der Bankenrekapitalisierung wird nicht angesprochen.
Null Punkte: 0
Das führt uns zum Fazit. Die Koalition landet in Summe bei –5 Punkten. Dabei schafft sie nicht einen einzigen Pluspunkt, und man kann froh sein, dass sie den Schaden nur in fünf Kriterien erhöht und in den anderen fünf Kriterien letztlich durch Untätigkeit nichts verschlimmert. Jetzt auf ein Platzen der Koalition durch eine Ablehnung der SPD-Basis zu hoffen, mag naheliegen, doch würde das nichts bringen. Wir bekommen auch in einer anderen Konstellation keine andere Politik. Das Volk will sich den Realitäten nicht stellen, wie die kürzlich vorgestellte Studie der Universität Heidelberg und des Forschungsinstituts Allensbach gezeigt hat. Die Deutschen wünschen sich einen «betreuenden», sich «kümmernden» Staat, der im Unterschied zum «liberalen» Staat als gerechter, wohlhabender, menschlicher und lebenswürdiger angesehen wird. Und die Politik liefert das, was die Bundesbürger wünschen. Der Preis für dieses Wohlfühlpaket wird hoch sein.
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Das schwarz-rote Wohlfühlpaket ist zu teuer
Was müsste die deutsche Regierung tun, um die Probleme langfristig zu lösen? Wie sieht die Koalitionsvereinbarung daran gemessen aus? Ein Kommentar von Daniel Stelter.