Die Finanzmärkte sind zufrieden. Mit der Welt und mit sich selbst. Die Börsen verzeichnen seit Jahresbeginn respektable Gewinne, an den Anleihenmärkten herrscht angenehme Ruhe. Die Volatilität, die beobachtete sowie die erwartete Schwankungsbreite der Preise an den Aktien- und Bondmärkten, verharrt auf historisch abnormal niedrigem Niveau.
Alles ist gut – oder wird es. Die US-Notenbank erhöht sachte die Zinsen, die Europäische Zentralbank bereitet ebenso behutsam den Ausstieg aus ihrer ultraexpansiven Geldpolitik vor. Investoren blicken auf die Konjunkturindikatoren in den USA und Europa und mögen, was sie sehen. Nicht zu heiss und nicht zu kalt.
Diese Signale sind wichtig, doch der Verlauf an den Börsen in den kommenden Monaten wird sich möglicherweise nicht in den USA und Europa entscheiden, sondern in China. In den vergangenen zwei Jahren wurden die Weltfinanzmärkte zwei Mal von einem heftigen Beben erschüttert, und beide Male – im August 2015 und im Januar 2016 – lag das Epizentrum in China. Die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt steht auch heute wieder vor einem heiklen Manöver: Peking versucht, das überhitzte Finanzsystem abzukühlen und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum über 6,5% zu halten.
Die Märkte gehen fest davon aus, dass es in China zumindest bis Ende Jahr zu keinen Erschütterungen kommen wird; im November findet der überaus wichtige 19. Kongress der Kommunistischen Partei statt, an dem Parteisekretär und Staatspräsident Xi Jinping seine Machtbasis für die zweite Amtsperiode festigen wird. Diese Annahme mag sich als richtig erweisen, doch Investoren sollten nicht unterschätzen: Das Manöver, an dem Chinas Regierung gegenwärtig arbeitet, gleicht einer Operation am offenen Herzen. Das Unfallrisiko ist hoch.
Exzesse und Fehlallokationen
Chinas Wirtschaftsentwicklung war in den Jahren seit der Finanzkrise von 2008 der wichtigste Einflussfaktor für die Weltkonjunktur. Im November 2008 beschloss Peking ein umgerechnet fast 600 Mrd. $ schweres Stimulusprogramm: Die Staatsführung gab den Banken sowie den Lokalregierungen die Order aus, die Schleusen zu öffnen. Und sie gehorchten. In den folgenden acht Jahren wurden im Reich der Mitte mehrere Zehntausend Kilometer Hochgeschwindigkeits-Bahnlinien und Autobahnen, Brücken, Hunderte Flughäfen, Häfen, Kongresszentren, ja, ganze Städte gebaut.
Alternative Geschichtsverläufe lassen sich nie beweisen, doch dieses Stimulusprogramm dürfte – neben der beherzten Rekapitalisierung des US-Bankensystems im Frühjahr 2009 – der wichtigste Faktor gewesen sein, der damals eine Weltdepression abgewendet hat. Chinas Nachfrage nach Eisenerz aus Brasilien, Kohle aus Australien, Erdöl aus Kanada, Kupfer aus Chile, Maschinen aus Deutschland und Korea stützte den Rest der Welt.
Chinas Bedarf an Infrastrukturbauten war damals gross. Das Luft-, Bahn- und Strassenverkehrsnetz im Land ist heute in einem hervorragenden Zustand und würde manchem amerikanischen Politiker die Schamröte ins Gesicht treiben. Viele der damals beschlossenen Investitionen haben die Produktivität erhöht und sich für China volkswirtschaftlich ausbezahlt.
Doch das Programm schuf drei Probleme, deren Rechnung sich heute präsentiert: Erstens hat die Zentralregierung Gefallen daran gefunden. Wenn immer in den vergangenen acht Jahren das Wachstum im Land lahmte, beschloss Peking ein Investitionsprogramm. Es bewährte sich als das effektivste Instrument, um Wachstum zu generieren. Zweitens entstanden perverse Anreize in den Provinzen: Wer immer in Chinas Parteiapparat aufsteigen will, muss in seinem Wirkungsbereich Wachstum zeigen – und der sicherste Weg zu Wachstum sind Bau-Investitionen. Deren Nutzen ist zweitrangig. Das führt zum dritten Problem: Die Investitionen werden über Schulden finanziert. Die Banken im Land haben den Bauboom freimütig mit Krediten unterstützt.
Der zwischen 2008 und heute verzeichnete Schuldenaufbau in der chinesischen Volkswirtschaft ist von historisch einmaliger Tragweite. Die kumulierte Verschuldung von Unternehmen – die meisten davon in Staatsbesitz –, privaten Haushalten und öffentlicher Hand ist in diesem Zeitraum von 140 auf fast 270% des Bruttoinlandprodukts gestiegen. Das ausstehende Kreditvolumen ist umgerechnet rund 23 000 Mrd. $ gewachsen. Diese Werte stellen punkto Grösse und Geschwindigkeit alle bisherigen Kreditzyklen der modernen Weltgeschichte in den Schatten.
Wenn die Wirtschaftshistorie eines lehrt, dann dies: In jedem fremdfinanzierten Bauboom kommt es zu Exzessen und Fehlallokationen von Kapital, werden Kredite für Projekte bewilligt, die niemals ihre Kapitalkosten decken. Und: Am Ende eines derartigen Kreditbooms folgte stets eine Finanzkrise. Das zeigte sich in den USA, Grossbritannien und Spanien 2007, in Südostasien und Korea 1997, in Japan 1990 oder in den USA 1929.
Die Frage ist nun: Wie gross ist der Anteil fauler Kredite im chinesischen Bankensystem? Wie viele Bauten – Bürotürme, Kongresszentren, Industrieparks, Opernhäuser, Geisterstädte – sind volkswirtschaftlich nutzlos? Und: Spielt das überhaupt eine Rolle, wenn der ultimative Eigentümer der überschuldeten Unternehmen und der insolventen Banken der Staat ist?
Die Antwort auf diese Fragen bleibt bislang aus, doch eines ist sicher: Der Finanzzyklus in China ist heiss gelaufen, und Parteichef Xi Jinping ist besorgt. Im Frühjahr sagte Xi, Wohnhäuser seien zum Leben und nicht zum Spekulieren da – eine Ansage gegen die überhitzten Immobilienmärkte. Ein harter Reformer, Guo Shuqing, hat im Februar die Leitung der Bankenaufsichtskommission übernommen. Zusammen mit dem an der Spitze der Wertpapierhandelsaufsicht eingesetzten Reformer Liu Shiyu und Exponenten der Zentralbank hat sich Guo ans Werk gemacht, das Finanzsystem abzukühlen.
Die Spuren dieses Bremsmanövers sind bereits sichtbar. Die Shanghai Interbank Offered Rate (Shibor), der Zins, zu dem sich Banken gegenseitig Geld ausleihen, hat sich seit Anfang Jahr von gut 3% auf aktuell gegen 4,5% verteuert. Die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen ist von unter 2,8 auf über 3,6% gestiegen.
Das ist im globalen Vergleich ein signifikanter Zinsanstieg, der auch am Devisenmarkt seine Wirkung zeigt. Der Yuan hat seinen Abwertungspfad verlassen und notiert aktuell auf dem höchsten Stand seit sieben Monaten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der kombinierte Effekt aus steigenden Zinsen, eingeschränkter Kreditvergabe und erstarkender Währung der Konjunktur Schmerzen zufügt.
Bereit für kurzfristige Schmerzen?
Der Grat ist schmal. Die Reformer wissen, dass das Bankensystem unter der Last fauler Kredite marode ist und saniert werden muss. Sie wissen, dass der Kreditschöpfungszyklus zu heiss gelaufen ist. Sie wissen, dass viele Staatsbetriebe hochgradig ineffizient und massiv überschuldet sind; dass sie nur dank immer neuer Bankkredite am Leben gehalten werden. Und sie wissen: Die nötigen Bereinigungen werden kurzfristig schmerzen und das Wachstum drosseln. Die Geschichte lehrt, dass in einem Zinserhöhungszyklus immer irgendwann, irgendwo die schwächsten Glieder im System bersten und eine Kettenreaktion auslösen können.
Diese Ausgangslage führt zu zwei Szenarien. Im ersten geht die Zentralregierung – möglicherweise in neuer Zusammensetzung nach dem 19. Parteikongress – mit der Rückendeckung von Xi Jinping den harten Weg. Das wäre langfristig gesund, würde kurzfristig aber zu einer markanten Wachstumsschwäche führen. Das wäre für die Weltwirtschaft sowie für die Finanzmärkte ein Schock. Im zweiten Szenario fehlt Peking der Mut, und das Wachstum wird mit einer weiteren Runde an Infrastrukturinvestitionen über 6,5% gehalten. Das würde kurzfristig die Weltfinanzmärkte freuen, langfristig jedoch in einem grösseren Sturm enden.
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Der Schlüssel liegt in China
An den Märkten herrscht Ruhe und Sorglosigkeit. Doch China versucht ein heikles Manöver: die Abkühlung des überhitzten Finanzsystems. Ein Kommentar von FuW-Chefredaktor Mark Dittli.