Amerikas Arbeitsmarkt boomt. In den vergangenen sechs Monaten sind netto im Durchschnitt 465’000 Arbeitsplätze pro Monat hinzugekommen. Damit sind alle während der Pandemie verlorenen Stellen zurückgewonnen (Stand Juli), und die Arbeitslosenquote ist mit 3,5% so niedrig wie zuletzt in der angespannten Arbeitsmarktsituation Anfang 2020.
Doch die Erwerbsquote zeigt ein anderes Bild. Mit 62,1% liegt sie 1,3 Prozentpunkte unter dem Wert von Februar 2020, unmittelbar bevor die Pandemie die Wirtschaft zu belasten begann. Obwohl sich die Erwerbsquote von ihrem Niedrigststand im April 2020 fast 2 Prozentpunkte erholt hat, stagnierte sie im Lauf dieses Jahres.
Ein Grossteil des Rückgangs entfällt auf ältere Arbeitnehmer. Frühverrentung und die Alterung der Bevölkerung haben die Erwerbsquote der über 55-Jährigen auf 38,7% sinken lassen, das ist 1,6 Prozentpunkte unter dem Niveau vom Februar 2020. Schlimmer noch, die Ökonomen von Goldman Sachs schätzen, dass die Bevölkerungsalterung die Erwerbsquote weiterhin 0,2 Prozentpunkte pro Jahr senken könnte.
Covid wirkt nach
Doch die ungünstige demografische Entwicklung erklärt nicht den gesamten Rückgang. Bei Menschen in ihren frühen Zwanzigern ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie heute erwerbstätig sind, 3% geringer als zu Beginn der Pandemie. Für Leute in den «besten Arbeitsjahren», also von 25 bis 54 Jahren, ist die Quote 0,7 Prozentpunkte niedriger als im Februar 2020.
Darüber hinaus ist die Messlatte für Erfolg zu niedrig angesetzt, wenn man lediglich die Erwerbsbeteiligung von vor der Pandemie wieder erreichen will. Vor der Pandemie stiegen die Durchschnittslöhne etwa 3% pro Jahr, in letzter Zeit sind sie jedoch mit einer Jahresrate von etwa 5% deutlich schneller gewachsen. In Sektoren wie dem Freizeit- und dem Gastrogewerbe, dem Transport- und dem Lagergeschäft sowie dem Bildungs- und dem Gesundheitswesen hat sich die zugrundeliegende Lohnzuwachsrate verdreifacht.
Höhere und schneller wachsende Löhne sollten eine Beschäftigung attraktiver machen, sodass zu erwarten wäre, dass die Erwerbsbeteiligung (besonders von Personen im Haupterwerbsalter) höher sein wird als vor der Pandemie. Warum also ist sie es nicht? Die Pandemie könnte nach wie vor dazu beitragen. Meinen Berechnungen zufolge, die sich auf Daten des US Census Bureau stützen, geben 7,3 Mio. Menschen an, dass sie nicht arbeiten, weil sie jemanden mit Covid-Symptomen pflegen, weil sie befürchten, sich anzustecken, oder weil sie wegen Covid entlassen oder beurlaubt wurden oder weil ihr Arbeitsplatz vorübergehend geschlossen werden musste.
Stetige Entwicklung
Darüber hinaus verfügen die US-Haushalte aufgrund verschiedener Konjunkturpakete, die zu Beginn der Pandemie verabschiedet wurden, immer noch über mehr als 2 Bio. $ an überschüssigen Ersparnissen, was einige Menschen davon abhalten könnte, Arbeit zu suchen. Da es in manchen Kinderbetreuungseinrichtungen immer noch recht drakonische Vorschriften gibt, gemäss denen Kinder nach einem Covid-Kontakt in Quarantäne gehen müssen, könnten einige Eltern nicht in der Lage sein, wieder an die Arbeit zu gehen.
Doch je mehr Monate vergehen, desto weniger überzeugen solche Erklärungen, und der Rückgang der Erwerbsbeteiligung nach der Pandemie scheint eher Teil eines längerfristigen Trends zur Arbeitslosigkeit zu sein. Im Juli 1952 waren in den USA rund 97% der Männer im Alter zwischen 25 und 54 Jahren erwerbstätig. Im vergangenen Juli war dieser Anteil auf etwa 88% gesunken. Der Rückgang war im Lauf der Zeit stetig, wobei sich die Erwerbsquote in Phasen des Aufschwungs etwas erholte, aber nur selten ihren früheren Höchststand erreichte.
Während des grössten Teils dieses Zeitraums stieg die Erwerbsbeteiligung der Frauen im Haupterwerbsalter; sie erreichte 2000 einen Höchststand von 77,3%, im Juli sank sie auf 76,4%. Dies entspricht dem Trend bei der allgemeinen Erwerbsquote, die Ende der Neunzigerjahre ihren Höchststand erreichte und jetzt mehr als 2 Prozentpunkte unter ihrem Höchststand liegt.
Katastrophe im Schneckentempo
Ich hatte erwartet, dass sich sowohl die Gesamtbeschäftigung als auch die Erwerbsquote im Haupterwerbsalter vollständig von der Pandemie erholen würden. Sollte sich die Erwerbsquote jedoch nicht ganz erholen, würde dies darauf hindeuten, dass die Konstellation der Kräfte, die sie in den vergangenen Jahrzehnten nach unten gedrückt haben, noch stärker ist, als ich bisher angenommen hatte.
Der langfristige Anstieg der Erwerbslosigkeit ist eine der wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen für die USA. Dieser Trend schwächt das Wirtschaftswachstum und geht mit einer höheren Kriminalitätsrate und anderen sozialen Missständen einher. Für viele ist eine bezahlte Beschäftigung eine Quelle der Würde und der Erfüllung, die Chance, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten und Erfolg zu haben.
Die immer niedrigere Erwerbsbeteiligung ist eine sich langsam anbahnende Katastrophe. Unabhängig davon, ob sich der Anteil der Erwachsenen, die am Erwerbsleben teilnehmen, vollständig von der Pandemie erholt oder nicht, sollte die Umkehrung des längerfristigen Rückgangs eine der obersten Prioritäten für die politischen Entscheidungsträger beider Parteien sein. Bislang ist das nicht der Fall. Aber mit dem neuen rhetorischen Bekenntnis der Republikaner, eine «Partei der Arbeiterklasse» zu sein, und mit der Tatsache, dass ein Grossteil der sozialpolitischen Agenda von Präsident Joe Biden noch in der Schublade liegt, ist das Thema zumindest auf dem Tisch.
Werden sich die politischen Entscheidungsträger der Herausforderung stellen? Darauf würde ich nicht wetten. Aber um der langfristigen Wirtschaftsaussichten des Landes willen – und um der Millionen zusätzlicher Amerikaner willen, die ihre Talente und Bemühungen durch bezahlte Beschäftigung einbringen könnten – hoffe ich, dass ich überrascht werde.
Copyright: Project Syndicate.
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