Das harte Vorgehen der chinesischen Regierung gegen Alibaba letztes Jahr und gegen den Mitfahrvermittler Didi diesen Monat hat die Spekulationen über die Zukunft der Technologiebranche des Landes weiter angeheizt. Manche verstehen die jüngsten regulatorischen Eingriffe in China als Teil eines berechtigten Trends, der parallel zur verstärkten Überwachung von Big Tech durch die US-Behörden verläuft. Andere sehen es als Massnahme zur Kontrolle von Daten, die andernfalls vom Westen instrumentalisiert werden könnten. Eine plausiblere Einschätzung deutet es als Schuss vor den Bug, der die chinesischen Konzerne daran erinnern soll, dass noch immer die Kommunistische Partei Chinas das Sagen hat.
Die logischste Erklärung ist aber folgende: Die Massnahmen der chinesischen Regierung sind Teil einer umfassenden Strategie, China von den Vereinigten Staaten zu entkoppeln – eine Entwicklung mit möglicherweise ernsten globalen Konsequenzen. Obwohl sich die wirtschaftlichen und strategischen Beziehungen zwischen China und den USA schon seit längerer Zeit stetig verschlechtern, hätten wohl die wenigsten geglaubt, dass sich aus dieser Rivalität eine geopolitische Konfrontation nach dem Muster des Kalten Krieges bilden könnte. Dafür waren die USA lange zu sehr von China abhängig und beide Volkswirtschaften zu eng verflochten. Jetzt erleben wir vielleicht, wie ein grundlegend anderes Gleichgewicht entsteht.
Der Kalte Krieg war vom Spiel dreier miteinander verknüpfter Kräfte geprägt. Die erste, und vielleicht wichtigste, war der ideologische Wettstreit. Der Westen unter Führung der USA und die Sowjetunion hatten unterschiedliche Vorstellungen von der richtigen Weltordnung und versuchten beide, ihre Vision mit allen Mitteln zu verbreiten. Dann gab es die militärische Dimension, die sich besonders deutlich im atomaren Wettrüsten zeigte. Beide Blöcke strebten die wissenschaftliche, technologische und wirtschaftliche Führungsrolle an, weil sie wussten, dass diese nötig war, um sich ideologisch und militärisch durchzusetzen.
Wie einst der Sputnik-Schock
Obwohl die Sowjets letzten Endes wirtschaftlich weniger erfolgreich waren als die USA, konnten sie anfangs durchaus technologisch-militärische Siege für sich verbuchen. Für die USA war der erfolgreiche Start des ersten Sputnik-Satelliten ein Weckruf.
Die offene Rivalität des Kalten Krieges war zu einem grossen Teil auch deshalb möglich, weil die USA und die Sowjetunion so entkoppelt waren. US-Investitionen und technologische Durchbrüche gelangten nicht automatisch zu den Sowjets (ausser manchmal durch Spionage), wie es in den letzten Jahrzehnten bei China der Fall war.
Jetzt aber sind aus den Konfliktpunkten zwischen China und den USA, angeheizt durch die widersprüchliche Diplomatie Donald Trumps, moderne Entsprechungen der Rivalitäten während des Kalten Krieges geworden. Die ideologische Kluft, die vor zwanzig Jahren noch nicht einmal am Horizont zu sehen war, ist inzwischen klar ausgeformt. Der Westen preist die Vorteile der Demokratie (mit all ihren Makeln) und China wirbt voller Selbstvertrauen weltweit für sein autoritäres Modell, besonders in Asien und Afrika.
Biden verschiebt Investitionsprioritäten
Gleichzeitig hat China nicht zuletzt im Südchinesischen Meer und der Taiwanstrasse neue militärische Fronten eröffnet. Natürlich hat sich in den letzten zehn Jahren auch der wirtschaftliche und technologische Wettstreit verschärft, und beide Seiten sind der Überzeugung, dass sie sich in einem existenziellen Wettrennen um die Dominanz im Bereich der künstlichen Intelligenz befinden. Auch wenn diese Konzentration auf KI vielleicht fehl geht, ist die Vorherrschaft in den digitalen Technologien, Biowissenschaften, in hochmoderner Elektronik und Halbleitertechnik ohne Zweifel von entscheidender Bedeutung.
Manche Beobachter begrüssen die neue Rivalität und glauben, durch sie lasse sich der Westen in einem klar definierten gemeinsamen Kampf vereinen. Schliesslich brachte der Sputnikschock die US-Regierung dazu, in Infrastruktur, Bildung und neue Technologien zu investieren. Eine ähnliche Mission für das staatliche Handeln heute hätte ihrer Meinung nach viele Vorzüge; tatsächlich hat die Regierung von Joe Biden bereits begonnen, die Investitionsprioritäten der USA am Wettstreit mit China auszurichten.
Es ist richtig, dass viele Erfolge des Westens während des Kalten Krieges nur möglich waren, weil ihm die Sowjetunion als Kontrastfigur diente. Das westeuropäische Modell der Sozialdemokratie galt als verträgliche Alternative zum autoritären Sozialismus sowjetischer Prägung. In ähnlicher Weise verdankt das marktwirtschaftliche Wachstum in Südkorea und Taiwan vieles der Bedrohung durch den Kommunismus, die autokratische Regierungen gezwungen hat, auf offene Repressionen zu verzichten, Landreformen einzuleiten und in ihre Bildungssysteme zu investieren.
Kosten wohl höher als Nutzen
Trotzdem wären die Kosten einer solchen Entkopplung höchstwahrscheinlich wesentlich höher als der potenzielle Nutzen eines neuen Sputnikschocks. In der verflochtenen Welt von heute ist globale Kooperation unverzichtbar. Der Wettstreit mit China mag vielleicht für die weltweite Verteidigung der Demokratie wichtig sein, ist aber nicht die einzige Priorität des Westens. Auch der Klimawandel bedroht unsere Zivilisation und erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen den USA und China.
Heutige Kommentatoren vernachlässigen ausserdem gerne die gewaltigen Kosten des Kalten Krieges. Wenn der Westen heute als Fürsprecher für Menschenrechte und Demokratie, unter anderem in Hongkong und China, nicht mehr besonders glaubwürdig ist, liegt das nicht nur an den jahrzehntelangen unseligen Militäreinsätzen im Nahen Osten. In den Jahren, in denen sich die USA in einen existenziellen Kampf mit der Sowjetunion verstrickt sahen, stürzten sie demokratisch gewählte Regierungen im Iran (1953) und in Guatemala (1954) und unterstützten Diktatoren wie Joseph Mobutu in der Demokratischen Republik Kongo und Augusto Pinochet in Chile.
Kein Stabilitätsgewinn
Ebenso falsch ist die Annahme, der Kalte Krieg habe zu mehr internationaler Stabilität geführt. Im Gegenteil, das atomare Wettrüsten und die Politik des äussersten Risikos auf beiden Seiten ebneten den Weg zum Krieg. Die Kubakrise war bei weitem nicht die einzige Konfrontation, die die USA und die Sowjetunion an den Rand eines offenen Konflikts (und der «garantierten gegenseitigen Zerstörung») brachte. Auch 1973, während des Jom-Kippur-Kriegs, im Jahr 1983, als das sowjetische Frühwarnsystem irrtümlich den Start einer US-amerikanischen Interkontinentalrakete meldete, und bei anderen Gelegenheiten entging die Welt nur knapp der Katastrophe.
Heute stehen wir vor der Herausforderung, ein Modell der friedlichen Koexistenz zu finden, das einerseits den Wettbewerb zwischen miteinander unvereinbaren Weltbildern und andererseits die Kooperation in geopolitischen Fragen und beim Klimaschutz ermöglicht. Das heisst nicht, dass der Westen Chinas Menschenrechtsverletzungen akzeptieren oder seine Verbündeten in Asien im Stich lassen sollte. Ebenso wenig sollte er sich aber in einem Konflikt nach dem Muster des Kalten Krieges verfangen. Trotzdem können westliche Regierungen weiterhin eine an Prinzipien ausgerichtete Aussenpolitik führen, besonders wenn sie bei der Überprüfung von Chinas Verstössen im In- und Ausland in erster Linie auf ihre Zivilgesellschaften vertrauen.
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Die Gefahren der Entkopplung
Die verflochtene Welt von heute braucht globale Kooperation. Der Wettstreit mit China ist für die Verteidigung der Demokratie wichtig, doch nicht die einzige Priorität des Westens. Ein Kommentar von Daron Acemoglu.