Die Welt ist Zeuge eines einzigartigen Experiments. Im Verlauf der vergangenen sechs Jahre haben die führenden Notenbanken, besonders das U.S. Federal Reserve, gefolgt von der Bank of England, der Bank of Japan und nun zunehmend der Europäischen Zentralbank, eine historisch beispiellos expansive Geldpolitik betrieben. Mit allerlei unkonventionellen Massnahmen haben sie die kurz- und die langfristigen Zinsen auf das niedrigste je verzeichnete Niveau manipuliert. Geld hat nahezu keinen Preis mehr.
Die Absicht hinter der Politik wurde meist klar kommuniziert. In den USA haben Fed-Chef Ben Bernanke und seine Nachfolgerin Janet Yellen stets betont, ihr Ziel sei die Ankurbelung der Wirtschaft und die Senkung der Arbeitslosenrate. Erreicht werden sollte dies in erster Linie über zwei Transmissionskanäle: Steigende Preise von Vermögenswerten wie Aktien und Immobilien sollten einen Reichtumseffekt schaffen und die Konsumenten motivieren, mehr Geld auszugeben. Niedrige Zinsen sollten, zweitens, Unternehmen zu neuen Investitionsprojekten anspornen. War diese Strategie erfolgreich?
Die Macht des Karriererisikos
Unter näherer Betrachtung der Finanzmärkte und der realen Wirtschaft wird deutlich, dass die Auswirkungen der Geldpolitik höchst unterschiedlich sind. Die Kurse am amerikanischen Aktienmarkt haben sich, um beim relevantesten Beispiel der USA zu bleiben, seit dem Tiefpunkt Anfang März 2009 verdreifacht. Die Wertzunahme der Indizes verlief zudem nahezu deckungsgleich mit der Verlängerung der Fed-Bilanz.
Selbstverständlich beweist diese Korrelation keine Kausalität, doch die These kann aufgestellt werden, dass die Geldpolitik ein zentraler Treiber der Aktienhausse war und immer noch ist. Geglückt ist dem Fed auch die Reflationierung des Immobilienmarktes: Der Preiszerfall konnte gestoppt werden, seit dem Tiefpunkt sind die Häuserpreise im landesweiten Mittel rund 25% gestiegen. Ballungszentren wie San Francisco und New York weisen bereits wieder Signale einer Überhitzung auf.
Es bleibt dahingestellt, ob der Aktien- und Immobilienmarktboom tatsächlich zu höheren Konsumausgaben führt. Zumindest lässt sich feststellen, dass dem Fed die Reflationierung der Vermögenspreise geglückt ist.
Ganz anders zeigt sich das Bild in der realen Wirtschaft. Die Kapitalinvestitionen der Unternehmen verharren auf einem im historischen Vergleich abnormal niedrigen Stand. Waren in den Neunzigerjahren in den USA noch Kapitalinvestitionen um 6% des Umsatzes die Norm, liegt dieser Wert gemäss einer aktuellen Studie der OECD gegenwärtig auf 4%. Das Niveau von vor der Finanzkrise wurde bislang mit Abstand nicht erreicht. Das Durchschnittsalter des Kapitalstocks der amerikanischen Unternehmen liegt aktuell über zehn Jahren, was dem höchsten Wert seit 1938, nach fast einem Jahrzehnt der Depression, entspricht. Das Muster der investitionsmüden Unternehmen ist auch in Japan und Europa eindeutig zu erkennen.
Wie ist das möglich? Weshalb weckt die Geldpolitik die «Animal Spirits» an den Finanzmärkten, während andererseits die Konzern- und Finanzchefs in der Unternehmenswelt nicht investieren wollen? Die mögliche Antwort liegt in einer Gemeinsamkeit dieser Gruppen: Beide sind einem erheblichen Karriererisiko ausgesetzt, sie müssen um ihren Job bangen, wenn sie einen Fehler begehen. Bloss schafft dieses Karriererisiko in den beiden Welten, im Finanzsektor und in der realen Wirtschaft, diametral entgegengesetzte Anreize.
Betrachten wir zunächst die professionellen Investoren, die sich an den Finanzmärkten bewegen. Ihre Leistung wird meist kurzfristig gemessen, im Quartals- oder Monatsrhythmus. Die Niedrigstzinspolitik zwingt diese Investoren, sich auf der Risikokurve immer weiter nach aussen zu wagen. Wer aus Bewertungsüberlegungen auf hochverzinsliche Bonds oder eine übermässig hohe Aktienquote verzichtet und stattdessen eine höhere Cashquote hält, wird am Markt abgestraft. Niemand hält es lange aus, gegen den Strom zu schwimmen.
«Solange die Musik spielt, müssen wir tanzen», sagte Charles Prince, der CEO von Citigroup, im Juli 2007, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise. Der glücklose Prince wurde für diese Aussage im Nachhinein mit Häme überschüttet, doch im Kern sagte er die Wahrheit. Solange die Musik spielt, müssen die meisten professionellen Investoren mit der Masse tanzen. Wer ausschert und falschliegt, ist bald den Job, die Kunden oder beides los. Das Karriererisiko ist einer der wichtigsten Einflussfaktoren für den Herdentrieb an den Finanzmärkten.
Investitionsflaute trotz Niedrigzinsen
Betrachten wir nun das Spannungsfeld, in dem sich eine Konzernchefin oder ein Finanzchef befindet, wenn es um den Entscheid über ein grosses Investitionsprojekt geht. Eine neue Produktionsstätte, eine Flottenerneuerung oder der Eintritt in einen neuen Markt sind Vorhaben, deren Lebensdauer sich über Jahrzehnte erstreckt, und es können Jahre vergehen, bis ihr Erfolg überhaupt sichtbar wird.
Die wichtigsten Determinanten in der Investitionsrechnung sind die erwarteten Cashflows, die das Projekt abwirft, die Kapitalkosten, mit denen das Projekt finanziert wird, respektive das Zinsniveau, mit dem der Barwert künftiger Cashflows berechnet wird. Intuitiv betrachtet müsste die Politik der Zentralbanken die Investitionsfreude anheizen, denn mit den Zinsen sinken die Kapitalkosten, und künftige Cashflows haben einen höheren Barwert, wenn der Diskontierungssatz niedrig ist. Weshalb wird denn trotzdem nicht investiert?
Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass das Zinsniveau nur eine sekundäre Rolle bei Investitionsentscheiden spielt. Kein Manager wird den Bau einer Fabrik gutheissen, bloss weil die Finanzierungskosten niedrig sind, wenn gleichzeitig seine Erwartungen an die künftige Wirtschaftsdynamik gedämpft sind. Dieses Argument wird gegenwärtig oft genannt: Die Unternehmensführer investieren nicht, weil sie die Zukunft als zu ungewiss einschätzen. Dem Argument lässt sich einiges abgewinnen, aber als alleinige Erklärung reicht es nicht, denn: Die Zukunft ist immer ungewiss, jedes grosse Investitionsprojekt ist mit Risiken verbunden.
Lieber konventionell scheitern
Eine mindestens ebenso wichtige Erklärung dürfte wiederum im Karriererisiko sowie – in einer Art Rückkoppelung – in dem Boom an den Finanzmärkten liegen: In den USA sind in den Jahren der Nullzinspolitik des Fed die von den Unternehmen ausgegebenen Summen für Aktienrückkäufe und Dividenden sprunghaft gestiegen und haben 2014 bislang das höchste je verzeichnete Niveau erreicht. Auch in Europa steigen die Rückkäufe und die Dividenden, wenngleich weniger heftig als in den USA. Ihren Cashflow investieren die Unternehmen demnach kaum in zukunftsgerichtete Projekte, sondern das Geld fliesst zurück an die Aktionäre.
Was ist die Motivation? Aktienrückkäufe werden von der euphorisierten Börse mit Applaus quittiert. Das niedrige Zinsniveau schafft den Unternehmen sogar den Anreiz, sich zu verschulden und die aufgenommenen Mittel in den Rückkauf von Aktien zu stecken. Diese «Bilanzoptimierung» – ein Financial Engineering ohne volkswirtschaftlichen Nutzen – wird an der Börse bejubelt.
Wieso also soll ein Konzernchef das Risiko einer Grossinvestition eingehen, die an der Börse kritisch beäugt wird und deren Resultat bestenfalls nach Ablauf mehrerer Jahre sichtbar ist? Da ist es einfacher und für den eigenen Bonus lukrativer, den Aktienkurs kurzfristig durch ein Rückkaufprogramm zu befeuern. Auch die Manager sind einem Karriererisiko ausgesetzt – und sie wählen, wie die Investoren, den für sie sichersten Weg in der Masse, getreu dem Bonmot von John Maynard Keynes: Es ist für den eigenen Ruf besser, konventionell zu scheitern, als unkonventionell zu gewinnen.
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Die Konsequenzen der Geldpolitik
Die Notenbanken haben das Zinsniveau auf ein historisches Tief gesenkt. Die Börsen haussieren, doch in der realen Wirtschaft halten sich die Unternehmen mit Investitionen zurück. Wieso? Ein Kommentar von FuW-Chefredaktor Mark Dittli.