Die Vorhersage der nächsten Krise – finanziell oder wirtschaftlich – ist ein Narrenspiel. Ja, jede Krise hat ihren Helden, der vor dem gewarnt hat, was kommen wird. Definitionsgemäss wurde der Held ignoriert (daher die Krise). Aber die Erfahrung mit modernen Vorhersagen zeigt auch: Wer eine Krise richtig vorhersagt, dem gelingt dies selten ein zweites Mal.
Das Beste, was die Ökonomen tun können, ist eine Beurteilung der Anfälligkeit. Der Blick auf die Ungleichgewichte in der Realwirtschaft oder an den Finanzmärkten gibt ein Gefühl für die möglichen Folgen eines grossen Schocks. Es braucht nicht viel, um in anfälligen Volkswirtschaften und Märkten Korrekturbedarf zu erkennen. Doch die Notwendigkeit einer Korrektur hier und da ist noch lange keine Krise. Es kommt auf die Schwere des Schocks und den Grad der Anfälligkeit an: Grosse Schocks gepaart mit hoher Anfälligkeit sind ein Garant für eine Krise.
In diesem Sinne ist die Art der Anfälligkeit, die mir am meisten Sorgen bereitet, diejenige der unverhältnismässig überzogenen Zentralbankbilanzen. Dafür habe ich drei Gründe.
Überdehnte Zentralbankbilanzen
Erstens sind die Bilanzen der Zentralbanken unbestreitbar gestreckt. Die Aktiva der grossen Zentralbanken – Fed, Europäische Zentralbank, Bank of Japan – betrugen im November 2019 zusammen 14,5 Bio. $, was nur geringfügig unter dem Höchststand von rund 15 Bio. $ Anfang 2018 liegt und mehr als das 3,5-Fache des Vorkrisenniveaus von 4 Bio. $ darstellt. Eine ähnliche Schlussfolgerung ergibt sich aus der Skalierung der Vermögenswerte nach der Grösse der jeweiligen Volkswirtschaften: Die BoJ liegt mit 102% des nominalen BIP an der Spitze, gefolgt von der EZB mit 39% und dem Fed mit nur 17%.
Zweitens ist die Expansion der Zentralbankbilanzen im Wesentlichen ein gescheitertes politisches Experiment. Ja, vor über einem Jahrzehnt, in den Tiefen der Krise Ende 2008 und Anfang 2009, konnten die zusammenbrechenden Märkte gestützt werden. Aber eine kräftige Konjunkturerholung konnte nicht ausgelöst werden.
Die Zentralbanken glaubten, dass das, was während der Krise funktionierte, auch während der Erholung funktionieren würde. Das ist nicht geschehen. Das kombinierte nominale BIP der USA, der Eurozone und Japans ist von 2008 bis 2018 um 5,3 Bio. $ gestiegen, was nur etwa der Hälfte der Expansion der Bilanzsummen der Zentralbanken von zusammen 10 Bio. $ im selben Zeitraum entspricht. Die verbleibenden 4,7 Bio. $ sind das funktionale Äquivalent einer massiven Liquiditätsspritze, die die Vermögensmärkte während des grössten Teils der Zeit nach der Krise gestützt hat.
Problematisches Mandat der Preisstabilität
Drittens leugnen die Zentralbanken, dass sie die Bilanzerweiterung wieder erhöhen, um die nachlassende wirtschaftliche Erholung zu stimulieren. Die Ende 2018 eingeführte Kehrtwende des Fed war wegweisend, indem es zunächst die geplante Normalisierung des Leitzinses rückgängig machte und dann nach stetigen Senkungen von Mitte 2017 bis August 2019 die Bilanz wieder wachsen liess (angeblich zwecks Reservenmanagements). Die Ankäufe von Vermögenswerten bleiben für die BoJ als kritisches Element der Abenomics-Reflationskampagne auf einem erhöhten Niveau. Die kürzlich eingesetzte EZB-Präsidentin Christine Lagarde, die jüngste Zentralbankerin der Welt, hat schnell zu Protokoll gegeben, dass die EZB-Währungsbehörden «jeden einzelnen Stein umdrehen» werden, was vermutlich auch die Bilanz einschliesst.
Warum also ist das alles problematisch? In einer Zeit niedriger Inflation haben die auf Inflation ausgerichteten Zentralbanken scheinbar nichts zu befürchten, wenn sie sich weiterhin auf der Seite aussergewöhnlicher geldpolitischer Anpassungen bewegen, sei es auf konventionelle Weise – Leitzinsen auf nahezu null – oder auf unkonventionelle Weise, mit Bilanzausweitung. Das Problem liegt zum Teil im Preisstabilitätsmandat selbst, einem seit langem bestehenden, aber inzwischen unangemessenen Anker für die Geldpolitik. Das Mandat ist mit der chronisch unter den Zielvorgaben liegenden Inflation und den wachsenden Risiken für die Finanzstabilität leider nicht mehr synchronisiert.
Die potenzielle Instabilität des US-Aktienmarktes ist ein Beispiel dafür. Nach den viel zitierten Zahlen des Nobelpreisträgers für Ökonomie Robert Shiller liegen die Aktienkurse im Verhältnis zu den zyklisch bereinigten langfristigen Gewinnen derzeit 53% über dem Durchschnitt nach 1950 und 21% über dem Durchschnitt nach der Krise seit März 2009. Ohne eine grössere Beschleunigung des Wirtschafts- und Gewinnwachstums oder eine neue Runde der Bilanzausweitung des Fed ist ein weiterer starker Anstieg an den amerikanischen Aktienmärkten unwahrscheinlich. Umgekehrt würden ein weiterer Schock oder eine überraschende Wiederbeschleunigung der Inflation und eine damit verbundene Zinserhöhung die Möglichkeit einer deutlichen Korrektur an einem überbewerteten US-Aktienmarkt erheblich erhöhen.
Wachstumspolster fehlt ausgerechnet jetzt
Das Problem liegt auch in der schwachen Realwirtschaft, die sich viel zu nah an ihrem Abwärtstempo bewegt. Der Internationale Währungsfonds hat kürzlich seine Schätzung für das weltweite BIP-Wachstum 2019 auf 3% gesenkt, auf halbem Wege zwischen dem vierzigjährigen Trend von 3,5% und den 2,5%, die üblicherweise mit einer globalen Rezession verbunden sind. Am Ende des Jahres belief sich das reale BIP-Wachstum in den USA auf weniger als 2%, und die Wachstumsprognose für die Eurozone und Japan für 2020 liegt unter 1%. Mit anderen Worten: Die grossen entwickelten Volkswirtschaften erleben derzeit überbewertete Finanzmärkte, setzen nach wie vor auf eine gescheiterte geldpolitische Strategie, und es fehlt ihnen auch ein Wachstumspolster, gerade dann, wenn sie es am meisten brauchen.
In einer so verwundbaren Welt braucht es nicht viel, um die Krise des Jahres 2020 auszulösen. Ungeachtet der Risiken, die mit einem Narrenspiel verbunden sind, stehen drei P ganz oben auf meiner Liste: Protektionismus, Populismus und politische Dysfunktion. Besonders beunruhigend ist die anhaltende Neigung zum Protektionismus, vor allem nach dem nichtssagenden Phase-1-Handelsabkommen zwischen den USA und China. Premierminister Narendra Modis «Hindu-Nation-Kreuzzug» in Indien könnte durchaus die beunruhigendste Entwicklung in einem globalen Schwenk hin zum Populismus sein. Das Amtsenthebungsverfahren führt Washingtons politische Dysfunktion weiter in unerforschtes Gebiet.
Möglicherweise wird der Funke etwas anderes sein, oder es gibt gar keinen Schock. Doch die Diagnose der Anfälligkeit muss ernst genommen werden, vor allem weil sie sich auf drei Perspektiven stützt: die Sicht der Realwirtschaft, der Wertschriftenpreise und der fehlgeleiteten Geldpolitik. Wenn man einen Schock in diesen Mix hineinwirft, wird die Krise des Jahres 2020 schnell zur Hand sein.
Copyright: Project Syndicate.
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Die Krise von 2020
Die Schwäche der Realwirtschaft, die hohen Bewertungen an den Wertschriftenmärkten und die fehlgeleitete Notenbankpolitik bilden einen Mix, der anfällig ist für Schocks. Ein Kommentar von Stephen S. Roach.