Alle paar Jahre gerät die Menschheit aus Furcht vor einer globalen Pandemie in eine Massenhysterie. Allein in diesem Jahrhundert haben Sars, H1N1, Ebola, Mers, Zika und nun das Coronavirus zu Reaktionen geführt, die rückblickend in völligem Missverhältnis zu den tatsächlichen Folgen der Krankheit standen. Der Sars-Ausbruch in China zwischen 2002 und 2003 (der auch auf ein Coronavirus zurückging, das wahrscheinlich von einer Fledermaus auf den Menschen übertragen wurde), infizierte 8000 Menschen und kostete weniger als 800 Menschenleben. Trotzdem führte er zu wirtschaftlichen Verlusten in Höhe von schätzungsweise 40 Mrd. $ – aufgrund geschlossener Grenzen, von Reiseverboten, wirtschaftlichen Unterbrechungen und Krankheitskosten.
Solche Reaktionen sind verständlich: Die Aussicht auf eine Infektionskrankheit, die unsere Kinder tötet, löst uralte Überlebensinstinkte aus. Die modernen Medizin- und Gesundheitssysteme haben die Illusion erzeugt, wir hätten völlige biologische Kontrolle über unser kollektives Schicksal, obwohl die Geschwindigkeit, mit der neue Pathogene auftauchen und sich verbreiten, durch die Vernetztheit der modernen Welt noch erhöht wird. Für die Angst vor neuen Infektionskrankheiten gibt es gute Gründe: Die öffentlich-private Gesundheitsallianz Cepi (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations) schätzt, ein hoch ansteckendes, tödliches, durch die Luft übertragenes Pathogen, das der Spanischen Grippe von 1918 ähnelt, könne heute in nur sechs Monaten fast 33 Mio. Menschen töten.
Trotzdem sind die Panikmache und die drakonischen Reaktionen auf diese Ausbrüche unproduktiv. Wir sind biologische Wesen und leben mit anderen Organismen zusammen, die manchmal eine Gefahr für uns darstellen und uns aufgrund ihrer schieren Anzahl und der schnellen Mutationsrate evolutionär in vielerlei Hinsicht überlegen sind. Unsere mächtigste Waffe gegen diese Bedrohung ist unsere Intelligenz. Dank der modernen Wissenschaft und Technologie und unserer Fähigkeit zu kollektivem Handeln verfügen wir bereits über die Werkzeuge, um globale Pandemien zu verhindern, mit ihnen umzugehen und sie einzudämmen. Statt jedes Mal, wenn uns ein neues Pathogen überrascht, wild um uns zu schlagen, sollten wir einfach auf die gleichen Ressourcen, das gleiche Organisationstalent und den gleichen Einfallsreichtum zurückgreifen, den wir für den Aufbau und den Betrieb unserer militärischen Einrichtungen verwenden.
Investitionen erforderlich
Genau gesagt brauchen wir einen dreifachen Ansatz: Erstens müssen wir in Wissenschaft und Technologie investieren. Unsere momentanen militärischen Fähigkeiten sind das Ergebnis von Billionen Dollar an Investitionen in Forschung und Entwicklung. Trotzdem verwenden wir nur einen Bruchteil dieser Ressourcen für die schnelle Entwicklung von Impfstoffen, Antibiotika und Diagnostika für den Kampf gegen gefährliche Pathogene.
Aufgrund biologischer Fortschritte könnten wir heute den genetischen Code und die Mutationsfähigkeit eines neuen Pathogens ermitteln. Wir können für den Kampf gegen Krankheiten das Immunsystem manipulieren und schnell immer effektivere Therapien und Diagnosen entwickeln. So können wir durch neue RNA-Impfstoffe (Ribonukleinsäure) unsere eigenen Zellen darauf programmieren, Proteine zu erzeugen, die das Immunsystem dazu anregen, Antikörper gegen eine Krankheit zu entwickeln – wodurch unser Körper zur «Impfstofffabrik» wird.
Zukünftig sollten die Mandate von Forschungsorganisationen wie der Defense Advanced Research Projects Agency des US-Verteidigungsministeriums und der Biomedical Advanced Research and Development Authority, die bereits heute Programme gegen Bioterrorismus und andere biologische Bedrohungen entwickeln, darauf ausgeweitet werden, verstärkt die Forschung über pandemische Gegenmassnahmen zu unterstützen.
Bereitschaft erhöhen
Das zweite Standbein ist die strategische Bereitschaft. In unseren modernen Gesellschaften setzen wir grosses Vertrauen in unser Militär, da wir engagierte Soldaten und öffentliche Angestellte wertschätzen, die uns wachsam gegen Bedrohungen unserer nationalen Sicherheit schützen. Aber obwohl in unseren öffentlichen Gesundheits- und Forschungseinrichtungen ähnlich viele Talente zu finden sind, erhalten sie erheblich weniger staatliche Unterstützung.
2018 hat die Regierung von Präsident Donald Trump die Abteilung des Nationalen US-Sicherheitsrats zur Koordinierung der Reaktionen auf Pandemien abgeschafft. Ausserdem hat sie der Abteilung des Zentrums für Seuchenkontrolle (CDC, Center for Disease Control), die Epidemien überwacht und sich auf sie vorbereitet, die Finanzierung entzogen. Noch schädlicher ist, dass die Regierung die Forschung offen diskreditiert. So wird das Vertrauen der Öffentlichkeit in wissenschaftliches und medizinisches Wissen untergraben.
Nehmen wir an, die USA werden von einem anderen Land angegriffen. Wir würden dann nicht erwarten, dass das Verteidigungsministerium plötzlich ankündigt, als Gegenoffensive schnell neue Tarnkappenbomber zu bauen. Die Idee ist lächerlich, aber trotzdem spiegelt sie unsere momentane Antwort auf biologische Bedrohungen.
Globale Koordination
Ein besserer Ansatz wäre, Mediziner und Wissenschaftler für ihre Arbeit anzuerkennen, die Infrastruktur für die Entwicklung und die Verbreitung medizinischer Notfalltechnologie aufzubauen und proaktiv die Organisationen zu finanzieren, die sich dem Kampf gegen Pandemien verschrieben haben. Als erster Schritt sollte die US-Regierung die kürzlich geschlossene Abteilung des Nationalen Sicherheitsrats wiederbeleben und durch einen speziellen «Pandemiebeauftragten» ergänzen. Weiterhin müssen die Büros, die für die Bekämpfung der Bedrohung zuständig sind, ausreichend finanziert werden – einschliesslich des CDC, des Heimatschutzministeriums und der Nationalen Gesundheitsinstitute.
Der dritte Teil besteht in einer koordinierten globalen Reaktion. Obwohl sie Trumps Idee des «America First» widerspricht, liegt eine multilaterale Antwort auf Pandemien offensichtlich im nationalen Interesse der USA. Amerika muss bei Themen, wo eine Zusammenarbeit klare Vorteile gegenüber staatlichen Einzellösungen aufweist, in Führung gehen. Ausserdem sollten die USA globale Mechanismen zur Erkennung und zur Überwachung entstehender Pathogene unterstützen, ein Spezialkommando von Gesundheitsarbeitern für den sofortigen Einsatz in Epidemiegebieten koordinieren, neue Finanzierungsmöglichkeiten (wie eine globale Epidemieversicherung) zur schnellen Mobilisierung von Notfallmassnahmen entwickeln sowie Impfstoffe entwickeln und lagern.
Hier muss der erste Schritt der Regierungen darin bestehen, die Finanzierung der Cepi zu verbessern, die nach der Ebola-Epidemie von 2014 dazu gegründet wurde, Impfstoffe zu entwickeln und zu verbreiten. Die ursprüngliche Finanzierung des Büros durch eine Koalition von Regierungen und Stiftungen betrug lediglich 500 Mio. $, was etwa die Hälfte der Kosten für einen einzigen Tarnkappenbomber ist. Dieses Budget müsste viel, viel höher sein.
Auf tödliche Pathogene einstellen
Beim Wettrüsten gegen die Pathogene kann es keinen endgültigen Frieden geben. Die einzige Frage ist, ob wir gut oder schlecht kämpfen. Ein schlechter Kampf bedeutet zuzulassen, dass die Pathogene massive periodische Zerstörungen verursachen und uns enorme Belastungen in Form verlorener wirtschaftlicher Produktivität aufbürden. Ein guter Kampf hingegen setzt voraus, dass wir ausreichend in Wissenschaft und Technologie investieren, zur Optimierung der strategischen Bereitschaft die richtigen Menschen und Infrastruktureinrichtungen finanzieren und bei koordinierten globalen Antworten die Leitung übernehmen.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir mit einem wirklich tödlichen Pathogen konfrontiert werden, das viel mehr Opfer fordern kann als sogar die schlimmsten unserer menschlichen Kriege. Als Art sind wir intelligent genug, um diesem Schicksal zu entgehen. Aber um uns zu retten, müssen wir unser Wissen, unser Talent und unsere organisatorischen Fähigkeiten voll einsetzen. Wir müssen uns bereits jetzt auf eine verantwortungsvolle Vorbereitung konzentrieren.
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Die Pandemie-Panik
Dank Wissenschaft und Technologie und unserer Fähigkeit zu kollektivem Handeln können wir globale Pandemien verhindern, mit ihnen umgehen und sie eindämmen. Ein Kommentar von Julie Sunderland.