Die Poesie des schwarzen, weiblichen Amerika
Lorna Simpson stellt im Kunstmuseum Thun aus.

Die Arbeiten der Künstlerin Lorna Simpson sind in den USA eine eigene Kategorie. Ihre Werke befinden sich in Sammlungen wie der Tate, dem Whitney Museum of American Art und dem Moma in New York. Simpson war einst die erste Afroamerikanerin, die an der Biennale in Venedig teilnahm. Sie gehört zu den Künstlern und Künstlerinnen, die für das afroamerikanische Kollektivgedächtnis der USA eine Bildsprache suchen – wie etwa auch Carrie Mae Weems, Theaster Gates, Mark Bradford oder Kara Walker. In der Schweiz waren Simpsons Arbeiten bis jetzt nicht zu sehen. Das Kunstmuseum Thun hat ihr nun eine Einzelausstellung gewidmet.
Lorna Simpson, geboren 1960, wuchs in Brooklyn, New York auf. Sie begann als Fotografin, studierte an der School of Visual Arts in New York, später sollte noch ein Master an der University of California in San Diego folgen. Simpson gehörte einer Generation an, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren die Bedeutungsformung hinter dokumentarischer Repräsentationen in der Fotografie per se hinterfragte. Nebst arrangierten Fotografien auf Schwarz-Weiss-Film prangten die für Simpson typischen kurzen Textschilder, die oftmals mehr Fragen aufwarfen, als sie beantworteten, aber den Finger in mindestens eine Wunde legten.
«Ebony»-Magazine
In Lorna Simpsons Werk geht es um Identitätskonstruktionen und Geschlechterbilder und die Geschichte der Afroamerikanerinnen in den USA. Ein konstanter Ankerpunkt ihrer Arbeit sind Zeitschriften und Archivmaterial, Lifestyle-Magazine wie etwa «Jet» oder «Ebony», die sich auch in der Ausstellung in Thun finden. Ein präzise aufgestapelter dreieinhalb Meter hoher Turm aus «Ebony»-Magazinen reicht bis fast an die Decke. Die totemistische, fragile Skulptur lässt aber gleichzeitig keinen Blick in das Innere des Magazins zu. Symbolische Eisstücke verhindern auch in der Installation «12 Stacks» den Blick auf die Covers von Magazinstapeln.

«Ebony», ein 1945 gegründetes, monatlich erscheinendes Hochglanzmagazin im Stil von «Life Magazine», schrieb von und für ein afroamerikanisches Publikum in den USA. «Ebony» und das Schwestermagazin «Jet» berichteten über Ereignisse wie den Lynchmord an Emmett Till, der sich seitdem in der amerikanischen Geschichte eingebrannt hat. Die Journalisten thematisierten die Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King bis zu Black Power und zelebrierten auch die Erfolge der Einzelnen. Damit hatten die Magazine nicht nur eine prägende Funktion für die Frauen in Simpsons Familie, sondern für ein schwarzes Amerika, das in den Mainstream-Medien von damals keinen Platz fand.
Konzeptuelle Fotografie
Angesichts des konzeptionellen Zugangs des Frühwerks greifen Vergleiche zu Barbara Krugers Wortkunstwerken und Cindy Shermans fotografischen Inszenierungen jedoch zu kurz. «Barbara Kruger spielt mit Wörtern und Bedeutungen, die eine gewisse Aggression, Unterdrückung und Macht vorwegnehmen. Cindy nimmt Whiteness als gegeben an», erklärte die Künstlerin in einem Interview. Simpson hingegen thematisierte damals wie heute die afroamerikanische Geschichte, Erfahrung und deren Familienverhältnisse und Rollenfunktionen.
Später erweiterte Simpson ihre Medien auf Fotografien auf Filz, Skulpturen, Film und eben Malerei. Simpsons jüngste Malereien sind figurativ, in Blautönen gehalten, lassen Figuren erahnen, die sich langsam aus der Abstraktion schälen.
«Es war eine Totheit in meinen Körper, die mir immer entwichen ist, fast als könnte ich ihren genauen Ursprung nicht lokalisieren. Ich behielt dieses Gefühl der Taubheit und der Atropie im Hinterkopf», schreibt der afroamerikanische Black-Panther-Aktivist Eldridge Cleaver von seiner Zeit seiner Inhaftierung im Folsom Prison in Kalifornien. Der Texttitel des Essays heisst «Soul on Ice», eine Referenz, die sich vielerorts in Simpsons jüngerem Werk findet: in den Eisblöcken, den Gletschern und den blauen Formen.

Das Blau – der Blues – die dominante Farbe in Simpsons Malereien, wird manche an Glenn Ligons «Blues Blood Bruise»-Schriftzug der Biennale 2015 in Venedig erinnern. Melancholie ist oft genau einen Steinwurf von Gewalt entfernt. Wirklich explizite Thematisierung von Rassismus finden sich in Simpsons Arbeit nicht, ausser als Implikation. In dem Video «Cloudscape» pfeift der mit Simpson befreundete Künstler Terry Adkins eine Melodie und verschwindet in einer Nebelwolke, um kurz danach wieder aufzutauchen, jedoch als rückwärts abgespielter Film. Der Körper von Atkins scheint zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu oszillieren, während das Zeitgefühl verschwimmt. Was übrig bleibt, sind die sozialen Kategorien.
Projektion von Identitäten
«Ebony» selbst hatte den Sprung ins digitale Zeitalter nicht geschafft und musste 2019 den Druck einstellen. Das Fotoarchiv konnte zwar gerettet werden. Was verloren ging, war wohl ein Teil der identitätsstiftenden Funktion, die spätestens seit dem Internet andere Formen angenommen hatte. Inhalte können nun durch jeden und jede publiziert und geteilt werden. Wie seit den Zeiten von Black Lives Matter und der Post-Trump-Ära die gemeinsamen Errungenschaften und die Stärke des afroamerikanischen Amerika der 1960er und 70er Jahre zu bewerten sind, ist vielleicht die grosse Frage, der sich der Besucher, die Besucherin auch in Thun stellen muss.

Es sind Simpsons Collagen aus dem gefundenen Bildmaterial, die in mancher Hinsicht Ansätze einer Antwort geben. Zwischen den nostalgischen Bruchstücken aus Fotografien, den ausgeschnittenen Köpfen der Frauen, der gebrochenen Hochglanzästhetik, gibt es ihn noch: den versprochene American Dream oder das, was zwischen Rollenbildern, Werbesujets und Projektionen von Identitätskonstellationen des dominant weissen, segregierten Amerika überhaupt je davon existiert hat.
Die Ausstellung ist noch bis zum 14. August geöffnet.
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