Die Schweiz verfügt über ein gutes, grosszügiges und entsprechend teures System der sozialen Sicherheit. Trotz des hohen Ausbauniveaus muss es immer wieder an das sich verändernde Umfeld angepasst werden. Die aktuellen Herausforderungen betreffen zwei Megatrends: die Alterung der Bevölkerung und die anhaltende Schwierigkeit, an den Finanzmärkten eine genügend hohe Rendite auf den angelegten Geldern zu erzielen.
Zugleich zeigt sich, dass die notwendigen Revisionen politisch immer schwieriger umzusetzen sind. So ist die Senkung des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule von 6,8 auf 6,4% im Jahr 2010 vom Volk mit einem Mehr von fast drei Vierteln abgelehnt worden. Im selben Jahr hat die unheilige Allianz von SP und SVP im Parlament die 11. AHV-Revision versenkt. Und in der abgelaufenen Sommersession haben die Räte den als Sparvorlage konzipierten zweiten Teil der 6. IV-Revision abgelehnt – und gefährden die Sanierung der IV.
Entgegengesetzte Kritiken
Entsprechend schwer wird es auch die am vergangenen Freitag von Innenminister Alain Berset vorgestellte Reform «Altersvorsorge 2020» haben. Die Linke setzt sich kategorisch gegen jede auch noch so kleine Einsparung zur Wehr und propagiert umgekehrt einen Ausbau der Altersvorsorge. Dabei macht sie sich kaum Gedanken darüber, wie ihre Wünsche finanziert werden sollen und welche Auswirkungen dies auf die Gesamtwirtschaft haben könnte.
Den bürgerlichen Parteien und den Wirtschaftsverbänden gehen die geforderten Mehreinnahmen zugunsten der Altersvorsorge zu weit. Ausnahmen sind der Pensionskassenverband und der Versicherungsverband, die Bundesrat Bersets Pläne unterstützen.
Der Innenminister will die AHV und die berufliche Vorsorge (BVG) in einem Paket synchron revidieren. Ein zentraler Pfeiler ist die Abschaffung des fixen Rentenalters, das durch ein Referenzalter ersetzt werden soll, ab dem Anspruch auf eine volle Rente besteht. Es soll auf 65 Jahre für beide Geschlechter fixiert werden. Im Übrigen soll das Rücktrittsalter zwischen 62 und 70 Jahren flexibilisiert werden. Dabei sollen Anreize geschaffen werden, länger als bis 65 Jahre zu arbeiten. Das effektive Rückzugsalter beträgt heute für die Männer 64,1 Jahre und für die Frauen 62,2. Frühpensionierungen haben eine versicherungstechnische Rentenkürzung zur Folge, spätere eine entsprechend höhere Rente. Neu soll auch die Möglichkeit einer Teilpensionierung mit teilweisem Rentenbezug geschaffen werden.
Der zweite zentrale Punkt betrifft die Senkung des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule von derzeit 6,8 auf 6%. Dabei sollen Kompensationsmassnahmen dafür sorgen, dass das Leistungsniveau erhalten bleibt. Dieser Schritt ist nötig und zugleich mutig, ist doch eine geringere Senkung des Satzes vor drei Jahren vom Volk wuchtig abgelehnt worden. Er ist nicht nur wegen der stetig steigenden Lebenserwartung nötig, sondern auch wegen der im Trend sinkenden Anlagerenditen. So haben Pensionskassen mit konservativer Anlagepolitik in den vergangenen zehn Jahren die nötige Rendite zur Finanzierung des Umwandlungssatzes von 6,8% nicht mehr erreicht. Folge ist eine Umverteilung zwischen den Generationen von Jung zu Alt, weil mit dem überhöhten Umwandlungssatz Renten ausgezahlt werden müssen, die nicht von den Rentnern selbst finanziert sind, sondern aus Beiträgen der jüngeren Versicherten. Das ist im Kapitaldeckungsverfahren an sich unzulässig.
Der dritte wichtige Eckwert ist die Einführung einer Schuldenbremse, hier als Interventionsmechanismus bezeichnet. Das Instrument hat sich in der Finanzpolitik auf Ebene des Bundes wie auch in einigen Kantonen sehr bewährt. Es soll durch einen Automatismus verhindern, dass die Rechnung chronisch negativ wird. Wenn gewisse Grenzwerte über- bzw. unterschritten werden, löst dies automatisch Stabilisierungsmassnahmen aus.
Konkret sind zwei Schwellen vorgesehen: Wenn absehbar ist, dass der AHV-Ausgleichsfonds, das Vermögen der AHV, unter 70% einer Jahresausgabe sinkt, ist der Bundesrat verpflichtet, Sanierungsmassnahmen einzuleiten. Wird die Schwelle trotzdem unterschritten, wird der Beitragssatz um höchstens einen Prozentpunkt erhöht, und die Anpassung der Renten an den Mischindex wird ausgesetzt. Die Massnahmen bleiben in Kraft, bis der Stand von 70% wieder erreicht ist.
Der vierte Pfeiler besteht in einer Zusatzfinanzierung für die AHV. Mit den Sparmassnahmen reduzieren sich die Kosten um rund 1,4 Mrd. Fr. Bis 2030 wird jedoch ein Fehlbetrag von knapp 9 Mrd. Fr. jährlich erwartet. Da eine Rentenkürzung als nicht opportun erachtet wird, soll das Loch mit dem Erheben zusätzlicher finanzieller Mittel gestopft werden.
Da die Lohnbeiträge – sie werden schon zur Abfederung des niedrigeren Umwandlungssatzes in der zweiten Säule steigen – nicht weiter erhöht werden sollen, schlägt Berset eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vor. Grundsätzlich erforderlich sind zwei zusätzliche Prozentpunkte. Dabei soll die Mehrwertsteuer auf Inkrafttreten des Pakets, voraussichtlich 2020, um einen Prozentpunkt angehoben werden. Der zweite soll später, nach Bedarf, hinzukommen.
Umstrittene Mehreinnahmen
An diesem Punkt vor allem entzünden sich die Kritiken der bürgerlichen Parteien und der Verbände. Das Verhältnis zwischen Sparmassnahmen und Zusatzfinanzierung ist in der Tat unausgeglichen. Vom erwarteten Loch von rund 9 Mrd. Fr. sollen nur 1,4 Mrd. Fr. auf der Ausgabenseite kompensiert werden. Als Alternative wird eine Erhöhung des Rentenalters für alle auf 66 oder gar 67 Jahre gefordert.
Klar ist allerdings, dass die Sanierung der AHV ausschliesslich über Sparmassnahmen kaum zu bewerkstelligen ist. Das erwartete Defizit von 9 Mrd. Fr. entspricht fast einem Viertel der Jahresausgabe 2012 von knapp 39 Mrd. Fr. Entsprechende Sparmassnahmen hätten nicht zu verantwortende Rentenkürzungen zur Folge. Es braucht also einen Mix von Sparmassnahmen und Mehreinnahmen. Dabei ist eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zusätzlichen Lohnprozenten klar vorzuziehen.
In der bevorstehenden Debatte darf zudem nicht vergessen werden, dass der Zeitdruck hoch ist. In der AHV wird das Umlageergebnis in einem oder zwei Jahren negativ – und wird es dann bleiben. Das Defizit kann dann etwa bis 2020 über die Kapitalerträge finanziert werden. Im BVG dürften die Probleme schon vorher akut werden, viele Kassen zahlen bereits jetzt nicht finanzierte Renten aus und verfügen über zu geringe Wertschwankungsreserven. Die Stossrichtung der «Altersvorsorge 2020» stimmt. Das heisst nicht, dass das Paket nicht noch modifiziert werden kann – aber es darf auf keinen Fall scheitern.
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Revisionen der Sozialversicherungen haben es in der Schweiz schwer – das gilt auch für das Programm «Altersvorsorge 2020». Doch die Zeit drängt, schreibt FuW-Redaktor Peter Morf.