Die Technologieblase der Neunzigerjahre
Die amerikanische Wirtschaft floriert, das Internet revolutioniert den Alltag. In der Euphorie verlieren die Anleger zuerst den Verstand, dann ihr Vermögen.

Das Jahrtausend beginnt mit einem Paukenschlag: Am 10. Januar 2000 kauft das junge Internet-Unternehmen AOL in der grössten Übernahme aller Zeiten für 164 Mrd. $ den traditionsreichen Medienkonzern Time Warner. Zwar erzielt der Jungspund einen deutlich geringeren Umsatz und verfügt über weniger Vermögenswerte als der Vertreter der Old Economy. Dank der grösseren Marktkapitalisierung erhält AOL jedoch 55% am fusionierten Mediengiganten.
Damit ist endgültig klar: die New Economy übernimmt die Vormacht, die verstaubte Konkurrenz kann einpacken. Jung schluckt alt. Dass die Hochzeit gleichzeitig den Höhepunkt einer der grössten Spekulationsblasen aller Zeiten markiert, ahnt kaum jemand.
1. «Goldilocks»-Wirtschaft
Dabei hatte alles so gut angefangen. Mit dem Mauerfall 1989 und dem Ende des Kommunismus ist die Marktwirtschaft auf dem Vormarsch. Der Kalte Krieg ist vorbei, weshalb der Konsum gesteigert und Rüstungsausgaben gestutzt werden können. Die Baby-Boomer konzentrieren sich auf ihre Karrieren, Amerikas Wirtschaft blüht auf. Die Arbeitslosigkeit nimmt stetig ab, und trotz robusten Wachstums geht die Inflation zurück. In Anlehnung an das gleichnamige Märchen macht der Begriff der «Goldilocks»-Wirtschaft, die sich weder überhitzt noch abkühlt, die Runde.
Von 1994 bis 1996 schnellen die realen Unternehmensgewinne der im S&P 500 Index enthaltenen Unternehmen um 60% in die Höhe. Zeitgleich macht sich das Internet immer stärker im Alltag bemerkbar – Anfang 1994 wird mit Mosaic der erste Webbrowser einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die Verbindung zwischen neuen Technologien und steigenden Gewinnen ist schnell gemacht. Das noch junge Internet verspricht unvorstellbare neue Geschäftsmöglichkeiten.
An diesen möchten die Anleger teilhaben. Sie investieren kräftig. Im Juli 1995 nimmt der von Technologiekonzernen wie Apple, Intel und Microsoft dominierte Nasdaq Composite erstmals die Hürde von 1000 – ein Anstieg von 40% innerhalb eines Jahres. Am 9. August kommt Netscape Communications, vormals Mosaic, mit nur gerade zwei Quartalen an Umsatzzahlen und ohne Gewinn an die Börse. Auf Anhieb wird die Firma mit 3 Mrd. $ bewertet. Der Wahnsinn kann beginnen.
2. Auf den Maestro ist Verlass
Nicht alle Beobachter trauen der Hausse. Schon 1996 kommen die Ökonomen John Campbell und der spätere Nobelpreisträger Robert Shiller zum Schluss, der Aktienmarkt sei deutlich überbewertet. Ihre Arbeit stellen sie der US-Notenbank vor, worauf deren Präsident Alan Greenspan in einer Rede am 5. Dezember von «irrationalem Überschwang» spricht. Doch er unternimmt: nichts.
Die Märkte freut es. Yahoo und Amazon kommen an die Börse. 1997 avanciert der Nasdaq Composite über 20%. Weder die Asienkrise noch der Zahlungsausfall Russlands 1998 und der dadurch ausgelöste Kollaps des Hedge Fund Long Term Capital Management vermögen den Aufschwung zu gefährden. Im Gegenteil: Die regelmässigen Brandherde bewirken, dass das Fed permanent die geldpolitischen Schleusen öffnet, um die Konjunktur nicht zu gefährden. Bei jeder aufziehenden Gefahr eilt der Fed-Präsident, mittlerweile ehrfürchtig «Maestro» genannt, rettend zur Hilfe. Die Anleger lernen schnell: Börsenrückschläge sind Kaufgelegenheiten. Der «Greenspan Put» ist geboren. Kombiniert mit den Verheissungen des Internets ist das eine explosive Mischung.
3. The Game of the Name
Im September 1998 folgt die Publikumsöffnung (IPO) von eBay zu 18 $ je Aktie. Am ersten Handelstag schiesst der Kurs auf über 47 $. Bis zum Jahresende klettert er auf 241 $. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis erreicht 1800. Wenigstens ist eBay profitabel. Denn immer mehr Firmen wie TheGlobe.com oder Flooz.com mit mikroskopischen Umsätzen und ohne Gewinne drängen aufs Börsenparkett. Investoren werfen bewährte Bewertungsgrundsätze über Bord. Die New Economy lässt sich schliesslich nicht mit überholten Kennzahlen erfassen. Dividenden und Profite interessieren nicht mehr. Was zählt, sind die Anzahl Seitenbesucher oder die «Cash Burn Rate» – wie schnell die noch zarten Unternehmen ihre Finanzpolster durchbrennen und in die Zukunft investieren.
Damit das Angebot an Firmen mit der Nachfrage Schritt halten kann, bringen die Banken zunehmend fragwürdige Gesellschaften an die Börse. Die Kotierungsstandards sinken. Die Analysten helfen kräftig mit – alles, was einen Kurs hat, wird zum Kauf empfohlen. Allein in 1999 und 2000 werden an der Nasdaq fast 700 IPO durchgeführt. Die Bankkommissionen sprudeln. Schnell realisieren gewiefte Unternehmer, dass sie den Wert ihrer Firmen über Nacht erhöhen können: das Anhängsel «.com» an den Firmennahmen genügt.
Die Schweizer Börse gründet im Sommer mit dem SWX New Market ein spezielles Segment, um wachstumskräftigen Technologieunternehmen den Börsenzugang zu erleichtern. Gegen Ende des Millenniums beherrscht das Jahr-2000-Problem, die Befürchtung, dass Fehler bei der Datumsumstellung die Wirtschaft am 1. Januar 2000 ins Chaos stürzen könnten, die Medien. Doch auf Greenspan ist Verlass, vorsorglich flutet er die Märkte mit Liquidität. Der Nasdaq Composite verdoppelt sich 1999 und schnellt in den ersten Wochen des neuen Jahrtausends 24% in die Höhe. AOL kauft Time Warner. Am 10. März 2000 erreicht der Index sein Allzeithöchst von 5048,62 Punkten.
4. Fehlstart ins Millennium
Doch die Schwerkraft gilt auch im Internet-Zeitalter. Das Fed, das während der Hausse die Spekulationsblase mit billigem Geld genährt hat, erhöht 2000 die Leitzinsen in drei Schritten von 5,5 auf 6,5%. Gleichzeitig verlangsamen sich die Technologieinvestitionen unerwartet stark. Am Horizont zeichnet sich eine Rezession ab. Dann geht es schnell.
Nur einen Monat nach Erreichen des Höchst hat der Nasdaq ein Viertel seines Werts eingebüsst – und das ist erst der Anfang. Mit den fallenden Kursen schwindet das Anlegervertrauen, die vor kurzem noch üppig sprudelnden Finanzierungsquellen versiegen. Der Nasdaq beendet das Jahr unter 2500, gerade noch halb so hoch wie neun Monate zuvor. Auch die Notierungen von soliden Unternehmen wie Amazon (–96%), Cisco Systems (–89%) oder Yahoo (–97%) erleiden brutale Verluste. Die Euphorie ist erloschen.
5. Von «.com» zu «.gone»
Mit dem Kurssturz kommt Unappetitliches ans Licht: um die steigenden Erwartungen zu erfüllen, haben viele Unternehmen tief in die Buchhaltungstrickkiste gegriffen: Gewinne wurden geschönt, fiktive Umsätze verbucht und Kosten als Investitionen deklariert. Dann der Schock: Am 2. Dezember 2001 meldet Enron, einst das siebtgrösste Unternehmen des Landes, Konkurs an. Adelphia, GlobalCrossing, Pets.com, Webvan, WorldCom und Dutzende weitere Höhenflieger folgen und schliessen ihre Pforten ebenfalls für immer. Firmen beginnen, «.com» und andere Internet-Bezeichnungen wieder aus ihren Namen zu streichen – und werden an der Börse mit Kursgewinnen belohnt.
Bald wird ruchbar, dass Staranalysten wie Henry Blodget , Mary Meeker oder Jack Grubman anstatt ihren Kunden ehrliche Einschätzungen zu liefern, die Kurse von maroden Firmen mit Gefälligkeitsanalysen in die Höhe getrieben hatten. Ihnen werden Millionenbussen und lebenslange Berufsverbote auferlegt. Die grossen Wallstreet-Häuser werden zu Milliardenbussen verurteilt. Arthur Andersen, Enrons Buchprüfer, bricht unter einem enormen Reputationsschaden zusammen. Um das Vertrauen in den Kapitalmarkt wieder herzustellen, treten Ende Juli 2002 mit dem Sarbanes-Oxley-Act die umfassendsten Finanzreformen seit der Grossen Depression in Kraft. Die Schweizer Börse löst den New Market auf.
Erst im Oktober, nach einem Verlust von 80%, endet die Talfahrt des Nasdaq. Doch unter den Trümmern der kollabierten Technologiefirmen nimmt die Zukunft Gestalt an. 2004 öffnet sich Google dem Publikum, und ein neuer Boom beginnt.
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