Die Tequila-Krise von 1994
Mexiko führt in den Achtzigerjahren Wirtschaftsreformen durch und sieht einer rosigen Zukunft entgegen – bis die politische Realität das Land einholt.

Das Jahr 1994 ist selbst für Mexiko äusserst turbulent. Am 1. Januar erklären die Zapatistas der Regierung von Präsident Carlos Salinas de Gortari den Krieg. Die von Subcomandante Marcos geführte Bauernbewegung will die Revolution mit Gewalt durchsetzen. Sie greift Städte an, begeht Bombenanschläge und entführt Politiker. Ein Waffenstillstand beendet die Gewalt – zumindest für den Moment.
Die Wirren halten aber an. Der Präsident von Banamex, der grössten Bank Mexikos, wird entführt. In den nächsten sechs Monaten werden insgesamt 150 Manager das gleiche Schicksal erleiden. In Tijuana fällt der Präsidentschaftskandidat der Regierungspartei PRI, Luis Donaldo Colosio, einem Attentat zum Opfer. Doch das ist erst das Vorspiel. Im Land brodelt es. Der Knall lässt sich aber Zeit. Erst kurz vor Weihnachten erschüttert er das Land.
1. Nafta ante portas
Nach der Krise ist vor der Krise. Abwertungen der Landeswährung Peso und Schuldenschnitte sind fast alltäglich im Mexiko der Siebziger- und Achtzigerjahre. 1982 kann der Staat seine Auslandschulden nicht bezahlen und stürzt in eine Krise. Banken werden verstaatlicht, ausländisches Geld fliesst ab. Erst sieben Jahre später findet Mexiko mit seinen Schuldnern eine Lösung. Die vom Finanzminister der USA initiierten Brady-Bonds ebnen Mexiko 1989 den Weg zurück an den internationalen Kapitalmarkt. Für den Finanzplatz sind die sieben Jahre aber fatal – das Know-how ist weg. Gut ausgebildete Finanzmarktspezialisten haben das Land in Richtung Wallstreet verlassen.
Am Horizont zeichnet sich der Beitritt zum Gemeinschaftsmarkt mit den USA und Kanada ab. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) wird 1994 in Kraft treten. Dafür muss Mexiko aber Bedingungen erfüllen. Kapitalflüsse müssen liberalisiert, der Bankensektor privatisiert, Handelshemmnisse abgebaut und marktfreundliche Institutionen geschaffen werden. Salinas verpasst seinem Land eine Radikalkur. Von 1988 bis 1991 privatisiert er mehr als 250 Unternehmen. Dazu gehört auch der Telecomriese Telmex, der vom heute zweitreichsten Mann der Welt, Carlos Slim Helú, gekauft wird. Dank den Einnahmen aus den Privatisierungen sinkt die Staatsverschuldung 1991 auf 35% des BIP. Zudem bieten sich ausländischen Anlegern viele attraktive Unternehmen, in die sie investieren können.
2. Entfesselter Bankensektor
Die neuen Anlagemöglichkeiten in Mexiko kommen vielen Investoren gerade recht. In den USA herrscht Anlagenotstand mit historisch tiefen Zinsen von 3%. Die Wachstumserwartungen in Mexiko sind hoch – Reformen und Liberalisierungen sei Dank. Und dann steht noch der Katalysator Nafta vor der Tür.
Die grosse Verfügbarkeit von Schuldpapieren lockt Investoren an. Auch mexikanische Banken nehmen Geld im Ausland auf und investieren es im Inland. Von der Freizügigkeit der Kreditgeber profitiert die Bevölkerung. Günstige Kredite verleiten zum Hauskauf und zum Konsum auf Pump. Zwischen Dezember 1988 und November 1994 steigen die Kredite lokaler Banken an den Privatsektor jährlich 25%, Kredite für Konsumgüter gar 67%.
Die Banken stehen aber auf tönernen Füssen. Es gibt keine Kapitalvorschriften, die Bankschulden geniessen unbegrenzte Staatsgarantie. Fehlende Überwachungssysteme, mangelndes Know-how und eine unfähige Bankenaufsicht kommen dazu. Doch das interessiert im Boom kaum.
3. Freudige Fondsmanager
Mexiko steht mit einem Bein in der Ersten Welt. 1993 betragen die externen Schulden 23% des Bruttoinlandprodukts. 1989 war die Quote fast doppelt so hoch. Die Schulden sind zudem fast nur in Peso denominiert. Die Fremdwährungsreserven sind in den vier Jahren bis 1993 um 6,4 auf 24,5 Mrd. $ gestiegen. Die Wirtschaft wächst zwischen 1989 und 1994 jährlich 3%. Investitionen in Infrastruktur stimuliert das Land: 4000 km Autobahn werden aus dem Boden gestampft.
Salinas wirbelt mit seinem Stab bei den Kapitalgebern. Viele aus seinem Team haben an Top-Universitäten in der USA studiert und pflegen ausgezeichnete Kontakte zu Wallstreet. Es sind die Grossen der Branche, die in Mexiko investieren: Fidelity, Merrill Lynch und Bear Stearns. In den Achtzigerjahren fliessen pro Monat 200 Mio. $ ins Land. 1991 sind es 1,2 Mrd. $ – Tendenz steigend. Fidelity wird der grösste Eigentümer von mexikanischen Staatsanleihen. «In keinem anderen Land kann ich Staatsanleihen kaufen, die so viel Rendite erreichen und sicher sind», sagt 1993 der Fondsmanager Robert Beckwitt von Fidelity. Die Rendite mexikanischer Staatsanleihen beträgt 16%, in den USA sind es 3%. Das Währungsrisiko ist überschaubar: Mexiko lässt den Peso jährlich 5% abwerten. Immer mehr Investoren folgen Beckwitt. 2,7 Mrd. $ drängen zwischen Oktober 1993 und März 1994 pro Monat nach Mexiko. Auch der Aktienmarkt profitiert. Er verdoppelt sich in den zwei Jahren bis Februar 1994.
4. Der Fehler vom Dezember
Ein Entscheid in Washington läutet das Ende ein: Alan Greenspan, der Präsident der US-Notenbank, erhöht ab Februar 1994 binnen Jahresfrist die Zinsen von 3 auf 6%. Mexikanische Anleihen verlieren an Attraktivität. Die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten der PRI sorgt für Unruhe. Im März 1994 greifen Spekulanten den Peso an. Statt die Währung freizugeben, setzt die Regierung alles auf Verteidigung und macht den entscheidenden Fehler: Sie kauft Schulden in Peso und gibt massenweise kurzfristige Papiere in Dollar aus, sogenannte Tesobonos. Damit schaufelt sie ihr eigenes Grab.
Der Druck auf den Peso nimmt zu. In zwei Monaten sind 40% der Fremdwährungsreserven weg. Unmut und Unzufriedenheit steigen. Der Mord am Präsidentschaftskandidaten ist nicht wirklich aufgeklärt, über die Zapatistas herrscht Unklarheit. Die ausländische Presse warnt vor einer massiven Abwertung des Pesos. Die Regierungspartei hat dafür aber kein Gehör. Sie muss bei den Präsidentschaftswahlen im August ihren Sitz verteidigen. Erstmals seit Jahrzehnten hat sie ernsthafte Konkurrenz. Doch die PRI kann den Sitz verteidigen, Ernesto Zedillo wird neuer Präsident.
Ruhe kehrt trotzdem nicht ein. Im September stirbt der Parteipräsident, José Francisco Ruiz, bei einem Attentat. Der Bruder von Salinas wird wegen Mordverdachts verhaftet und schuldig gesprochen. Erst 2005 kommt er aus Mangel an Beweisen frei, weil die Anklage damals Zeugen bestochen hatte.
Im November 1994 übersteigen die Tesobonos mit 28 Mrd. $ die Fremdwährungsreserven. Der Regierung bleibt nichts anderes übrig, als den Peso abzuwerten. Sie peilt am 20. Dezember eine Abwertung von 15% an. Dies geht als der Fehler vom Dezember in die Geschichte ein. Der Druck der Spekulanten ist zu gross. In zwei Tagen ist die Hälfte der Reserven verpufft. Die Regierung muss den Peso freigeben. Der Knall erschüttert Mexiko am 22. Dezember: Der Peso taucht weitere 20%. Die Schulden in Dollar erdrücken das Land. Mexiko braucht ein Hilfsprogramm. Die USA und internationale Institutionen geben 50 Mrd. $.
5. Immer auf die Kleinen
Wegen der Abwertung des Pesos schnellt die Inflation 1995 auf 52%. Die Regierung gibt mit der Erhöhung der Zinsen Gegensteuer und würgt die Wirtschaft ab – sie schrumpft 1995 um 6,2%. Den Banken droht ob der faulen Kredite die Pleite. Sie werden aber vom Staat gerettet. Die undurchdachten Reformen des Finanzsektors rächen sich nun.
Stärker leidet der kleine Mann. Die Arbeitslosigkeit verdoppelt sich auf 6,2%, die Reallöhne sinken 1995 um ein Drittel. Während die Bevölkerung leidet, kommen Investoren aus dem Ausland bald zurück. Bereits 1996 fliessen pro Monat im Schnitt wieder 1 Mrd. $ ins Land und lassen den Aktienmarkt neue Rekordmarken erklimmen. Nicht alle Investoren kommen aber mit einem blauen Auge davon. Nach den massiven Verlusten mit mexikanischen Staatsanleihen muss Beckwitt seinen Posten bei Fidelity räumen.
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