Es gibt viele Traditionen in diesem Land. Wird zum Beispiel zur Mitte der Amtszeit des Präsidenten das Parlament (Kongress) neu gewählt, verliert seine Partei meistens. Das dürfte Joe Biden und seinen Demokraten in diesem November passieren. Die Inflation ist mit über 8% auf einem Vierzigjahreshoch. Jeden Tag spüren die Amerikaner, wie ihr Einkommen beim Lebensmitteleinkauf oder an der Zapfsäule schrumpft. Seit Anfang 2022 schmelzen auch ihre Vermögenswerte dahin, während die US-Notenbank die Zinsen so rasch erhöht wie seit zwanzig Jahren nicht mehr und damit den Aktienmarkt auf Talfahrt schickt. Eine grosse Mehrheit der Bevölkerung sorgt sich um ihre finanzielle Zukunft und hat heute weniger Vertrauen in die US-Wirtschaft als zu Beginn der Pandemie.
In einem solchen Umfeld kann der Mann an der Spitze, dessen Umfragewerte tief gefallen sind, nur den Kürzeren ziehen. Die Demokraten dürften im November die Mehrheit in mindestens einer der beiden Kongresskammern, dem Repräsentantenhaus, klar an die oppositionellen Republikaner verlieren. In der zweiten Kammer, dem Senat, wo nur ein Drittel der Sitze heuer zur Wahl steht, könnten die Demokraten ihre hauchdünne Mehrheit verteidigen. Diese Konstellation würde für die kommenden zwei Jahre politischen Stillstand bedeuten.
Gewalt und Wahn
Dabei hat das Land gravierende Probleme, die überparteilicher Zusammenarbeit bedürften. Seit Ende der Lockdowns wächst die Gewalt in erschreckendem Masse. Vergangene Woche hat ein Achtzehnjähriger aus rassistischen Motiven in einem Supermarkt in Buffalo im Bundesstaat New York zehn Menschen erschossen. Vergangenen Monat wurde bei einem Amoklauf in der New Yorker U-Bahn wie durch ein Wunder niemand verletzt. Bürgermeister Eric Adams nannte die einfache Verfügbarkeit von Schusswaffen ein «einzigartiges amerikanisches Problem».
Die Attentäter stehen für eine weitere Misere: Die mentale Gesundheit vieler Amerikaner ist angeschlagen. So viele Menschen wie noch nie sind im vergangenen Jahr an einer Drogen- oder einer Medikamentenüberdosis gestorben. Das Gesundheitssystem ist so kompliziert und der Zugang dazu derart ungleich verteilt, dass die Lebenserwartung in einigen Landstrichen unter der mancher Entwicklungsländer liegt. Die Müttersterblichkeit ist so hoch wie in keiner anderen westlichen Demokratie.
Doch die tiefe politische Spaltung verhindert grosse Lösungen. Die beiden dominierenden Parteien sind sich so spinnefeind wie zuletzt vor dem Bürgerkrieg 1861. Nun hat der Riss die letzte Bastion erreicht, die bis anhin unantastbar schien. Aus dem Obersten Bundesgericht (Supreme Court) wurde vor zwei Wochen ein Urteilsentwurf nach draussen durchgestochen, wonach die republikanische Mehrheit der Richter das Abtreibungsrecht kassieren will, weil sie es nicht aus der Verfassung abgeleitet sieht. Damit giesst der Supreme Court Öl in einen Streit, den er selbst 1973 auf Bundesebene gehoben hatte. Bevor sich über den Kongress ein gesellschaftlicher Konsens dazu bilden konnte, erklärte damals ein demokratisches Richtermehr Abtreibung für ein Recht, das sich aus der Verfassung ableite.
Sollte dieses Recht im kommenden Monat tatsächlich fallen, haben republikanisch dominierte (rote) Bundesstaaten bereits Gesetze in Arbeit, die den Schwangerschaftsabbruch komplett für illegal erklären. Demokratische (blaue) Staaten hingegen werden ihn bestätigen oder ausweiten. Die Rechtslage in den Landesteilen driftet so weiter auseinander. Wer eine Abtreibung will, muss in einen blauen Staat an West- oder Nordostküste reisen. Wer offen seine Waffe tragen will, muss in einen roten Staat im Süden und im ländlichen Amerika. Durch zunehmende Binnenmigration driften die unterschiedlichen politischen Ansichten tatsächlich auch räumlich immer weiter auseinander. Das zementiert die Einparteiherrschaft in den Bundestaaten und sorgt dafür, dass nur noch eine Handvoll der Hunderte von Wahlkreisen wirklich umkämpft ist.
Der tatsächliche Wahlkampf findet vor allem in den innerparteilichen Vorwahlen statt, bei denen oft nur der harte Kern der Parteigänger abstimmt. Hier setzen sich zurzeit überproportional Kandidaten durch, die Extrempositionen der Parteien einnehmen. Das Phänomen wird unterstützt durch die sozialen Medien. Nachweislich dominieren auf Twitter, Facebook und Co. mit Wortmeldungen die politisch aggressiven Minderheiten links wie rechts, während vernünftige Stimmen ruhig bleiben oder sich irgendwann frustriert abwenden.
Diese Minderheiten – so politisch unterschiedlich sie sein mögen – haben etwas gemeinsam: Sie sind mehrheitlich weiss und gehören zu den wohlhabendsten Bevölkerungsgruppen. Amerika wird auseinandergerissen durch den Kampf kleiner Elitegruppen gegeneinander, die nicht die breite Bevölkerung repräsentieren. Am Ende könnte so eine republikanische Mehrheitsfraktion im Kongress von extremen Getreuen des Ex-Präsidenten Donald Trump dominiert werden. Sie haben seine Lüge von der gestohlenen Präsidentschaftswahl verinnerlicht und werden nicht davor zurückschrecken, per Kongressbeschluss unliebsame Wahlergebnisse für nichtig zu erklären.
Einigkeit in Sachfragen
Während die tief gespaltene politische Elite erschreckend weit an der breiten Bevölkerung vorbei regiert, teilt diese dennoch bis heute gemeinsame Grundsätze. Das zeigt sich, wenn es zu Sachfragen an die Urne geht. 2018 stimmten 65% der Wähler in Florida dafür, dass Sträflinge, nachdem sie ihre Strafe abgesessen haben, das Wahlrecht zurückerhalten. 2020 sprachen sich 75% der Wähler in Massachusetts dafür aus, dass kleine Autowerkstätten Zugriff auf Daten der Autobauer nehmen dürfen, um gegenüber den Grossgaragisten kompetitiv sein zu können. Im selben Jahr bestimmten 73% der Wählerschaft von Mississippi eine neue Staatsflagge und erteilten der alten aus Bürgerkriegszeiten eine Absage. Aktuelle Umfragen zum Thema Abtreibung zeigen zudem: Die grosse Mehrheit der Amerikaner – sei es in blauen oder in roten Staaten – ist gegen ein striktes Verbot und für eine differenzierte Regelung. Die Republikaner müssen aufpassen, dass sie mit ihrer Extremposition in dieser Frage den Wahlsieg im November nicht doch verspielen.
Die erwähnten Ergebnisse zeigen: Zu grundsätzlichen Themen – Chancengleichheit, demokratische Wahlen, Teilhabe an der Gesellschaft und medizinische Versorgung – besteht ein breiter Konsens in der amerikanischen Gesellschaft. Darauf zu hoffen, dass dieser Geist bald im politischen Washington Einzug hält, ist jedoch naiv. Dafür bräuchte es wohl die Abschaffung des Zweiparteiensystems oder zumindest eine Wahlreform. Dass sich Demokraten und Republikaner in nützlicher Frist darauf einigen, ist nicht zu erwarten. So bleibt kurzfristig nur, auf die Wählerschaft zu hoffen, dass sie, wie einst dem Antidemokraten Trump, den extremen Kandidaten auf beiden Seiten eine Abfuhr erteilt.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl, das es dafür braucht, war immer dann am grössten, wenn sich die USA einem externen Gegner gegenübersahen. Nicht von ungefähr nahm die politische Spaltung mit Ende des Kalten Krieges dramatisch zu. Ein alter Gegner in Form des heutigen Russland, angeführt von Diktator Putin, ist nun allerdings zurück, und an seiner Seite steht das rücksichtslose Regime in Peking, das seinen Weltmachtanspruch schon lange nicht mehr verhehlt. Es ist Zeit, dass das amerikanische Volk wieder die Bedeutung seiner Demokratie für die Welt begreift. Dafür müssten sich die Menschen in blauen und roten Staaten wieder ihrer gemeinsamen Grundsätze bewusst werden. Dabei kann eine weitere Tradition helfen: der Glaube an sich selbst und die Grösse der amerikanischen Nation.
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Die zerrissenen Staaten von Amerika
Die politischen USA sind so gespalten wie zuletzt vor dem Bürgerkrieg. Woran das liegt und wie es anders werden kann. Ein Kommentar von US-Korrespondent Valentin Ade.