Wenn immer man im grösseren Kreis über die gegenwärtige Krise spricht, fällt früher oder später die Bemerkung,
es müsse alles noch viel schlimmer kommen, bis eine Lösung möglich sei. Die Geschichte zeige, was uns noch blühe: «Die USA konnten sich erst im Zweiten Weltkrieg von der Depression befreien, in Deutschland brauchte es eine Diktatur, damit die Menschen wieder Arbeit fanden.»
Auf den ersten Blick mag dies verrückt klingen. Es gibt in Europa keinerlei Anzeichen, dass Krieg und Diktatur bald zurückkehren werden. Die Rezession in Südeuropa stärkt zwar neue Kräfte ausserhalb des etablierten Parteienspektrums, aber ihre Programme sind bisher nur in Ausnahmefällen mit dem Faschismus der Dreissigerjahre vergleichbar. Es stimmt, dass sich in Rumänien und Ungarn besorgniserregende Entwicklungen abzeichnen. Aber daraus abzuleiten, der Kontinent kippe bald in ein neues finsteres Zeitalter, wirkt abenteuerlich.
Parallelen zur Zwischenkriegszeit
Dennoch sollte man den Hinweis auf die Dreissigerjahre ernst nehmen, denn zumindest in chronologischer Hinsicht ist er korrekt. Als 1939 der Krieg in Europa ausbrach, lag die offizielle Arbeitslosenrate in den USA noch über 15%. Während des Krieges schrumpfte sie auf etwa 2%, und nach Kriegsende pendelte sie sich auf dem Vorkrisenniveau von 5% ein. Die Behauptung, die Grosse Depression habe erst im Zweiten Weltkrieg wirklich geendet, ist also richtig. Dasselbe gilt für die Arbeitslosenrate in Deutschland. 1932, auf dem Höhepunkt der Krise, betrug sie rund 20% – nach alternativer Berechnung sogar gegen 30%. Ab 1933 sank sie in raschem Tempo, 1935 herrschte in Deutschland wieder Vollbeschäftigung. Wenig später zeichnete sich sogar eine Arbeitskräfteknappheit ab. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ging es mit der deutschen Wirtschaft also eindeutig bergauf.
Der Hinweis auf die Geschichte ist auch insofern richtig, als dass sich bei Krieg und Diktatur jeweils eine positive Wirkung auf das Wirtschaftswachstum nachweisen lässt. Ein Land, das in einen Weltkrieg involviert ist, benötigt so viele Arbeitskräfte wie möglich. Der Staat tritt als grosser Arbeitgeber auf und kann in Kriegszeiten enorme Finanzmittel mobilisieren, die sich zumindest kurzfristig positiv auf Konjunktur und Beschäftigung auswirken. Dasselbe gilt für eine Diktatur, die über Jahre aufrüstet und dadurch die Privatwirtschaft mit lukrativen Aufträgen versorgt. Die Arbeitslosigkeit sank in den USA und in Deutschland also nicht zufällig.
Wende im Frühjahr 1933
Falsch ist aber die Unterstellung, die Krise hätte ohne Krieg und Diktatur nicht beendet werden können. Die historische Evidenz zeigt klar, dass die Grundlagen für den Aufschwung bereits vor dem Weltkrieg respektive vor der Hitler-Diktatur gelegt wurden. Entsprechend wäre die Krise auch ohne politische Extremereignisse früher oder später zu Ende gegangen. So herrscht unter Wirtschaftshistorikern seit der «Monetary History of the United States» (1963) von Milton Friedman und Anna Schwartz weitgehend Konsens, dass die Roosevelt-Administration die Depression bereits im Frühjahr 1933 beendete, indem sie das Bankenwesen sanierte und den Dollar abwertete. Damit habe das Fed den Spielraum bekommen, das Kreditsystem wieder in Schwung zu bringen und die deflationären Erwartungen zu brechen. Die US-Wirtschaft wuchs in der Tat von 1933 bis 1936 schneller als je zuvor. 1937 erreichte sie wieder das Vorkrisenniveau.
Warum gelang es dennoch nicht, die Arbeitslosigkeit auf das alte Niveau zurückzubringen? Die Krise hatte 1929 begonnen und war 1939 noch immer spürbar. Innerhalb von zehn Jahren hätte es doch möglich sein sollen, die Vollbeschäftigung wiederherzustellen.
Darauf gibt es mehrere Antworten. Erstens war das Ausmass der Depression ausserordentlich. Von 1929 bis 1933 schrumpfte das Bruttoinlandprodukt der USA um ein Drittel, die Industrieproduktion um die Hälfte, und die Arbeitslosigkeit erreichte 25%. Von 25’000 Banken gingen 10’000 in Konkurs. Zweitens war Roosevelts Wirtschaftspolitik nicht in allen Belangen ideal. Sie verordnete eine Stabilisierung der Löhne und Preise und erhöhte damit die Eintrittsbarrieren auf dem Arbeitsmarkt. Auch die restriktive Geld- und Finanzpolitik im Jahr 1937 war kontraproduktiv; sie warfen das Land zurück in die Rezession.
Hohe US-Privatverschuldung
Drittens handelte es sich um einen besonders schädlichen Krisentyp. Genau wie heute stand das Problem der privaten Verschuldung im Zentrum. In den goldenen Zwanzigerjahren hatten sich die privaten Haushalte und Unternehmen übermässig verschuldet. In der Krise waren sie gezwungen, ihre Ausgaben drastisch zurückzufahren, was die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erheblich schwächte. Bis 1933 erhöhte sich die Verschuldungsquote zunächst sogar, weil die Krise so gravierend war. Erst nach der Abwertung gelang es, Wirtschaftswachstum und private Entschuldung gleichzeitig zu verfolgen. Um diesen Prozess abzuschliessen, brauchte es den Zweiten Weltkrieg nicht. Der Krieg half lediglich, ihn zu beschleunigen, indem der Staat sich massiv verschuldete und so den privaten Entschuldungsprozess erleichterte.
Auch in Deutschland zeigt sich ein differenziertes Bild, wenn man die Entwicklung unter die Lupe nimmt. Der Aufschwung war bereits eingeleitet, als Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde. Deutschland war 1931 in eine schwere Finanzkrise geraten. Das Bankensystem brach zusammen, der Staat wurde insolvent, und die Reichsbank musste wegen schrumpfender Goldreserven eine Abwertung der Währung befürchten. Daraufhin ergriff die Regierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning drei entscheidende Massnahmen: Erstens führte Brüning Devisenkontrollen ein und befreite so die Reichsbank von der Pflicht, Noten gegen Gold zu tauschen. Zweitens erreichte er in Verhandlungen, dass Deutschland die Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg einstweilen nicht mehr bezahlen musste. Die Alliierten sahen ein, dass Deutschland wirtschaftlich nicht mehr in der Lage war, die Schulden zu bedienen. Drittens fror Deutschland alle Guthaben von ausländischen Gläubigern ein.
Keine Ernte für Brüning -
So gravierend diese Verstösse gegen internationales Recht auch waren, so wichtig waren sie für das Ende der deutschen Krise. Erstens hatte die Reichsbank dank der Aufhebung des Goldstandards den Spielraum, mittels expansiver Geldpolitik die Banken zu stützen und die Konjunktur anzukurbeln. Zweitens verschafften das Schuldenmoratorium und das Einfrieren ausländischer Guthaben eine Verschnaufpause für die Banken und den öffentlichen Haushalt. Die Konjunktur sprang zwar nicht so schnell an wie in den USA nach der Sanierung der Banken und der Abwertung. Aber in der zweiten Jahreshälfte 1932 zeigten sich erste Zeichen des Aufschwungs.
Leider konnte Brüning nicht ernten, was er gesät hatte. Als er die Subventionen für die ostelbischen Junker antasten wollte, um den Staatshaushalt zu entlasten, liess ihn Reichspräsident Hindenburg im Mai 1932 fallen. Bei den vorgezogenen Reichstagswahlen im Juli 1932 erreichte die NSDAP 37% der Stimmen. Hätte Hindenburg Kanzler Brüning im Amt gelassen und die Wahlen nicht um zwei Jahre vorgezogen, würden wir heute ganz anders über die deutsche Krise reden. Hitler hatte unglaubliches Glück. Die Krise war im Prinzip gelöst, als er von Hindenburg Anfang 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde.
Für die Krisenwende in den Dreissigern war also weder Krieg noch Diktatur notwendig, und es ist davon auszugehen, dass sie auch heute keine Rolle spielen werden. Die historischen Beispiele zeigen aber auch, dass die Lösung nur mit unorthodoxen Massnahmen erreicht werden konnte. Währungsabwertung, Devisenkontrollen, das Schuldenmoratorium und das Einfrieren ausländischer Guthaben verstiessen gegen Treu und Glauben, waren aber notwendige Voraussetzungen für den Aufschwung. Das wird in der aktuellen Krise in Europa nicht anders sein.
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Es geht auch ohne Krieg
Die Behauptung, nur Hitlers Diktatur und der Zweite Weltkrieg hätten die Grosse Depression in Deutschland und den USA beendet, ist falsch, meint Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann im Kommentar.