Krugman: «Wählt mich zum Diktator»
Der US-Ökonom Paul Krugman spricht an der Universität Zürich über die Zukunft der Europäischen Währungsunion.

«Kann Europa gerettet werden?», fragte der US-Ökonom Paul Krugman am Donnerstagabend in einer öffentlichen Vorlesung an der Universität Zürich.
Zunächst gab der Nobelpreisträger seine Analyse, weshalb Europa – respektive die Europäische Währungsunion – seit Jahren in einer latenten Wachstumskrise steckt.
«Wir erleben immer noch den Kater nach der Finanzkrise von 2008: Das Wirtschaftswachstum bleibt schwach, die Arbeitslosigkeit ist hoch, und die Inflationsraten in Europa bleiben hartnäckig und deutlich unter dem von der Europäischen Zentralbank angepeilten Ziel», sagte Krugman.
Europa leide zwar nicht explizit unter Deflation nach dem Beispiel Japans, aber unter, wie der Internationale Währungsfonds es nenne, «Lowflation» – und dies, obwohl die EZB die Basisgeldmenge seit 2015 dramatisch ausgedehnt habe.
Die aggregierte Nachfrage in Europa verharre auf einem zu niedrigen Niveau, sagte Krugman.
Griechenland und Finnland
In weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit herrsche immer noch die Meinung, die Ursache der Eurokrise liege in der hohen Staatsverschuldung. Doch diese Ansicht sei komplett falsch, sagte Krugman.
«Die beiden Länder in der Eurozone, die in den vergangenen Jahren den grössten Rückgang ihres Pro-Kopf-Einkommens erlebt haben, sind Griechenland und Finnland», sagte Krugman.
«Niemand ist der Meinung, die Finnen hätten über ihre Verhältnisse gelebt und ihre Staatsschulden aufgebläht. Sie hatten bloss das Unglück, dass die Nachfrage nach ihren wichtigsten Exportgütern, Nokia-Telefonen und Papier, auf dem Weltmarkt eingebrochen ist.»
Ein Land, das mit einem heftigen Nachfragerückgang und einem Einbruch der heimischen Wirtschaft konfrontiert sei, müsse auf dem Weltmarkt seine Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen.
Interne versus externe Abwertung
Grundsätzlich gebe es zwei Wege für ein Land, seine internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen: eine interne Abwertung, eine extrem zähe Reduktion des inländischen Lohn- und Preisniveaus. Oder eine externe Abwertung der eigenen Währung.
Doch für die Länder in der Europäischen Währungsunion sei der zweite Weg versperrt; sie verfügten über keine autonome Geldpolitik mehr und seien daher gezwungen, die interne Abwertung zu wählen. Das Resultat seien Deflation, eine harte Rezession und hohe Arbeitslosigkeit in diesen Staaten, sagte Krugman.
Demokratischer Stresstest
Die Depression, die Griechenland seit 2009 durchlaufen habe, sei in ihrem Ausmass und ihrer Brutalität historisch nahezu einmalig. «Es ist ein Wunder, dass Griechenland noch einigermassen demokratisch funktioniert», mahnte Krugman.
«Spanien hat es in einem zähen Prozess über mehrere Jahre geschafft, die inländischen Lohnkosten im Vergleich zu Deutschland zu senken, was zum Beispiel die spanische Autoindustrie gestärkt hat. Aber das reicht bei weitem immer noch nicht, um in Spanien Vollbeschäftigung zu erreichen», sagte Krugman. Besonders die Jugendarbeitslosigkeit sei immer noch viel zu hoch.
Fehlende Transfermechanismen
Ein grundsätzliches Konstruktionsproblem sei die Abwesenheit von fiskalischen Transfermechanismen in der Eurozone. Dazu nannte Krugman ein Beispiel: «Die Situation in Florida war nach 2008 vergleichbar mit Spanien; in beiden Regionen platzte eine grosse Immobilienblase. Doch Florida erhielt als Teil der Fiskalunion USA automatische Transferzahlungen, die den lokalen Effekt des Rückschlags abfederten.»
In einer Transferunion wie den USA – oder auch der Schweiz – sei es völlig normal, dass reiche Staaten wie Connecticut und New Jersey viel mehr ins Bundesbudget bezahlen, als sie erhalten.
«Arme Staaten wie Mississippi erhalten dagegen viel mehr, als sie bezahlen. Ironischerweise sind das die Staaten, in denen die Bevölkerung überwältigend politische Kandidaten wählt, die gegen Washington und die Bundesregierung wettern», sagte Krugman.
«Diese Transfermechanismen fehlen in Europa völlig», sagte er.
Der an der City University of New York lehrende Professor hält es dabei gar nicht unbedingt für nötig, dass die Eurozone zu einer vollständigen Fiskal- und Transferunion ausgebaut werde. Eine echte Bankenunion mit einer gemeinsam finanzierten Einlagenversicherung würde seiner Meinung nach möglicherweise schon ausreichen.
«Eine Fiskal- und Transferunion in Europa ist derzeit politisch ohnehin eine Illusion. Ich werde das zu meinen Lebzeiten – und ich bin 63 Jahre alt – nicht mehr sehen», sagte Krugman.
Austerität als Religion
Was wäre nach Meinung Krugmans die Lösung?
«Eine massive Ausweitung der Fiskalpolitik wäre ein Rezept, um die Nachfragelücke zu überbrücken. Japan hat es seit den Neunzigerjahren getan. Japan hat es dank staatlichen Investitionen in Infrastrukturbauten geschafft, die Arbeitslosigkeit im Land niedrig zu halten», sagte Krugman.
Es sei in diesem Umfeld nicht schlimm, wenn dabei die Staatsschulden steigen: «Seit zwanzig Jahren prophezeien einige Marktbeobachter eine Staatsschuldenkrise in Japan. Sie ist nie eingetreten – doch sie prophezeien sie auch heute noch.»
«Europa hat an der fiskalpolitischen Front praktisch nichts getan», kritisierte Krugman, «Austerität wurde die Religion in Europa. Die meisten einflussreichen Politiker und Ökonomen in Europa und vor allem in Deutschland glaubten, der Auslöser der Eurokrise seien zu hohe Staatsschulden gewesen – was eindeutig nicht der Fall ist.»
Europa habe völlig versagt, die Fiskalpolitik in sinnvoller Weise auszuweiten, um die hartnäckige Wachstumsschwäche zu bekämpfen.
Grosser politischer Zusammenhalt
Der politische Wille, den Euro zu bewahren, sei bis anhin extrem gross gewesen, sagte der Amerikaner. «Der Zusammenhalt in Europa hat mich positiv überrascht.»
Doch man dürfe diesen politischen Zusammenhalt nicht als gegeben erachten. Die demokratischen Systeme in den einzelnen Euroländern – nicht nur in Griechenland – seien einer enorm harten Prüfung ausgesetzt.
Staatliche Infrastrukturinvestitionen
«Wählt mich zum Diktator für zwei Jahre», sagte Krugman scherzhaft. «Ich würde eine sehr aggressive Form der Wirtschaftspolitik einführen, wie sie Premier Shinzo Abe in Japan gemacht hat: die Kombination eines temporären, sehr umfangreichen Fiskalstimuluspakets, gekoppelt mit extrem expansiver Geldpolitik, um die Inflationsrate auf deutlich über 2% zu bringen.»
Deutschland und die Niederlande sollten diesen Fiskalimpuls anführen, sagte Krugman: «Es gibt zahlreiche ökonomisch sinnvolle Infrastrukturprojekte in Europa.»
Im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft» präzisierte Krugman, dieser Fiskalimpuls müsse einen Umfang vom mindestens 3% des Bruttoinlandprodukts der Eurozone während zwei Jahren haben.
Was wäre die Alternative zu diesem Programm?
«Wir können warten, bis irgendetwas passiert. Das ist, was die Politik in Europa heute tut. Sie schindet Zeit. Und während dieser Zeit erodiert der politische Zusammenhalt, wir sehen eine schleichende Erosion der gemeinsamen europäischen Werte, populistische und isolationistische politische Kräfte gewinnen an Stärke.»
Krugman räumt wenig Chancen ein, dass es tatsächlich dazu kommen wird. Die Opposition gegen erhöhte Staatsausgaben sei besonders in Deutschland viel zu gross.
«Kann der Euro gerettet werden? Ja. Wird er gerettet werden? Ich habe meine Zweifel», resümierte Krugman.
Paul Krugman weilte auf Einladung des UBS International Center of Economics in Society in Zürich.
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