Seit der Jahrtausendwende werden die Ursachen von Lohnunterschieden zwischen Männern und Frauen in regelmässigen Abständen empirisch untersucht. Die Methodik, die auf dem statistischen Verfahren der Regressionsanalyse beruht, ist hierzulande zum Standard geworden. Sie ist u. a. zur Aufdeckung von Lohndiskriminierung juristisch anerkannt und vor Bundesgericht zugelassen.
Zudem will der Bundesrat alle Arbeitgeber mit mindestens fünfzig Mitarbeitern gesetzlich verpflichten, alle vier Jahre eine solche Lohngleichheitsanalyse durchzuführen, sie von einer unabhängigen Stelle überprüfen zu lassen und die Ergebnisse den Mitarbeitern mitzuteilen.
Angesichts der breiten Akzeptanz des Verfahrens, zumal von staatlicher Seite, könnte man leicht zu der Meinung gelangen, dass sich Lohndiskriminierung so objektiv und leicht messen lässt wie etwa die Tagestemperatur. Doch der Schein trügt.
Das angesprochene Verfahren erschien eingangs der Siebzigerjahre in der wirtschaftswissenschaftlichen Fachliteratur. Es zerlegt eine relative Lohndifferenz zwischen zwei Personengruppen (hier Männern und Frauen) in zwei Teile: einen, der darauf zurückführen ist, dass Männer und Frauen sowie ihre Tätigkeiten unterschiedliche lohnbestimmende Merkmale aufweisen und mithin unterschiedlich entlohnt werden, und einen, der daher rührt, dass Männer und Frauen trotz identischer Merkmalprofile und Tätigkeiten unterschiedlich verdienen. Letzterer wird als Mass der Lohndiskriminierung angesehen, da er eine Ungleichbehandlung von Gleichem, den Hauptwesenszug der Diskriminierung, darstellt.
Raum für Manipulation
Das Messverfahren verfolgt allerdings lediglich ein Erklärungsziel: Es soll Lohnunterschiede zwischen zwei Personengruppen empirisch ergründen. Der Bundesrat und die Gerichte hingegen haben ein anderes Ziel vor Augen: Der Ansatz soll vielmehr die Präsenz von Lohndiskriminierung nachweisen. Doch damit wird der Methodik eine Aufgabe aufgebürdet, der sie nur unzureichend nachkommen kann.
Dies ergibt sich unter anderem daraus, dass der Erklärungsanteil der Diskriminierung steuerbar ist: Je mehr lohnrelevante Erklärungsfaktoren in einer Lohngleichheitsanalyse Berücksichtigung finden, desto tiefer fällt unter sonst gleichen Bedingungen der Erklärungsanteil der Lohndiskriminierung aus. Der Grund dafür ist intuitiv leicht verständlich. Je differenzierter und detaillierter die gewählten Erklärungsfaktoren Stellen und ihre Inhaber beschreiben, desto einmaliger erscheinen diese und folglich desto seltener ist eine Ungleichbehandlung von Gleichem im Datenmaterial aufzufinden. Neuere ausländische Lohnstudien, beruhend auf sehr detaillierten Tätigkeitsbeschreibungen, bringen es sogar fertig, den Erklärungsanteil der Lohndiskriminierung auf null zu senken.
Die Erkenntnis, dass Lohngleichheitsanalysen manipulierbar sind, ist nicht neu. Sie findet inzwischen Eingang sogar in einführende Lehrbücher der Arbeitsmarktökonomie. Anscheinend ist dies dem Bundesrat und den Gerichten entgangen.
Die Zahl der Kontrollvariablen ist allerdings nicht immer frei wählbar. So lässt das sogenannte Standardanalysemodell des Bundes, das Verstösse gegen das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann aufdecken soll, nur fünf Faktoren zur Erklärung von Lohnunterschieden zwischen Männern und Frauen zu: Ausbildung, Seniorität, potenzielles Erwerbsalter (Lebensalter minus Vorschul- und Bildungsjahre), Anforderungsniveau und berufliche Stellung. Das Modell liegt auch dem Vorstoss des Bundesrats zugrunde.
Hierzu ist zunächst anzumerken, dass sich auch eine Einschränkung der Zahl der zulässigen Kontrollvariablen umgehen lässt, indem man die Anzahl der Ausprägungen pro Merkmal (etwa bei Stellung im Beruf) erhöht. Die Auswirkung auf die Ergebnisse ist die gleiche.
Doch an der Variableneinschränkung stimmt eher bedenklich, dass die wenigen zugelassenen Variablen oft kaum imstande sein dürften, die lohnrelevanten Merkmale von Stelleninhabern und ihrer Tätigkeiten ausreichend zu erfassen. Die Ertragskraft einer Tätigkeit dürfte zum Beispiel ein wichtiger lohnbestimmender Faktor sein. Man denke etwa an eine Bank, wo der Einzelverdienst deutlich nach der Profitabilität des jeweiligen Geschäftsbereichs (etwa Investment versus Retail Banking) streut. Werden lohnrelevante Faktoren ausser Acht gelassen, wird das Ausmass der Lohndiskriminierung überschätzt, da aufgrund fehlender Differenzierung Ungleiches vermehrt als Gleiches erscheint.
Die Einschränkung der Zahl der zulässigen Kontrollvariablen wird zuweilen dadurch gerechtfertigt, dass die Berücksichtigung von Faktoren mit Diskriminierungspotenzial Frauen benachteiligt. Diskriminierungspotenzial besitzt ein lohnbestimmendes Merkmal dann, wenn Frauen aufgrund anderweitiger Nachteile das betrachtete Merkmal häufiger oder seltener aufweisen als Männer. Ein Beispiel dafür sind Erwerbsunterbrüche, die Frauen infolge von Mutterschaft in der Regel häufiger erfahren als Männer. Wenn sie die Arbeitsproduktivität des Einzelnen beeinträchtigen und niedrigere Löhne zur Folge haben, bewirkt ihre Berücksichtigung im Rahmen einer Lohngleichheitsanalyse, dass der Lohnnachteil infolge mutterschaftsbedingter Erwerbsunterbrüche nicht als Lohndiskriminierung erscheint. Das will aber die Politik nicht.
Doch das Weglassen produktivitätsrelevanter Faktoren mit Diskriminierungspotenzial heisst, eine Firma für einen Zustand verantwortlich zu machen, dessen Ursachen ausserhalb ihres Einflussbereichs liegen. Angemessener wäre es, bei den Ursachen korrigierend einzugreifen statt durch Lohnanpassungen bei den Symptomen, zumal Löhne, die Produktivitätsunterschiede nicht reflektieren, das Angebot der entsprechenden Stellen senken, was den Betroffenen kaum dient. Gezielter wäre die Förderung von Ganztagesstrukturen in Kindergärten und Schulen oder bezahlbarer Kinderbetreuung, damit Erwerbsunterbrüche seltener vorkommen.
Es stellt sich auch die Frage, ab welchem Umfang eine festgestellte Lohndiskriminierung als unstatthaft gilt. Das Standardmodell schreibt vor, dass dieser Punkt dann erreicht ist, wenn der statistisch gesicherte Erklärungsanteil der Diskriminierung 5% überschreitet. Doch ob eine gegebene Lohndifferenz statistisch gesichert ist, hängt von der Grösse der zugrunde gelegten Stichprobe ab: Je grösser die Stichprobe, desto gesicherter ist ceteris paribus ein festgestellter Unterschied. Allein aus diesem Grund ist daher zu erwarten, dass sich Lohndiskriminierung eher bei Firmen mit vielen Beschäftigten statistisch nachweisen lässt.
Was tun mit den Löhnen?
Ferner ist zur Kenntnis zu nehmen, dass das Zerlegungsverfahren in Wirklichkeit vier verschiedene Diskriminierungsmasse liefert. Welches das richtige ist, sagt die Wissenschaft nicht. Es ist eine Ermessenssache.
Und wenn Lohndiskriminierung festgestellt wird, was ist zu tun? Ein erhaltenes Diskriminierungsmass bezieht sich auf Durchschnittspersonen. Das schliesst nicht aus, dass manche Mitarbeiterinnen mehr verdienen als ein repräsentativer Mitarbeiter des gleichen Merkmalprofils. Sind ihre Löhne dann abzusenken? Oder nur diejenigen der Mitarbeiterinnen, die weniger verdienen, anzuheben, mit der möglichen Folge, dass nachher Mitarbeiterinnen eines gegebenen Merkmalprofils im Mittel mehr verdienen als merkmalhomogene Kollegen? Auch darauf fehlen Antworten.
Schliesslich ist zu bedenken, dass eine festgestellte Lohndiskriminierung für viel Unruhe in einer Firma sorgen dürfte. Deshalb sollte ihre Messung über jeden Verdacht erhaben sein. Vom Mass des Standardmodells ist dies schwer zu behaupten.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch
Lohngleichheit genau analysieren
Lohndiskriminierung kann in einem Betrieb Unruhe bewirken. Ihre Messung muss exakt sein. Das lässt sich vom Schweizer Standardmodell nicht sagen. Ein Kommentar von George Sheldon.