Nach seinem betrügerischen Wiederwahlsieg im August 2020 verbrachte der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenko mehr als hundert Tage damit, die massiven friedlichen Proteste zu unterdrücken, die das Land überfluteten. Doch die scheinbare Ruhe täuscht: Weit davon entfernt, sich einschüchtern zu lassen, passen die Leute ihre Taktik ständig an, um das Regime zu täuschen.
Nach den gross angelegten Märschen im vergangenen Herbst in Minsk und anderen Städten wurden die Demonstrationen lokaler und verstreuter und fanden in Wohnquartieren im ganzen Land statt. Oppositionelle Hacker blockierten die Webseiten der Regierung und kaperten die Online-Übertragungen der staatlichen Medien, um die schmutzige Wäsche des Regimes und die Brutalität der Sicherheitsdienste zu enthüllen.
Als Journalisten an der Berichterstattung gehindert wurden, fingen Bürgerjournalisten an, alles aufzuzeichnen, um den Behörden zu zeigen, dass sie nicht darauf hoffen können, offizielle Verbrechen zu vertuschen. Bis zum heutigen Tag betreiben die Belarussen Sabotage auf niedrigem Niveau, zeigen die Flagge der Opposition und ähnliche Symbole überall, wo sie können.
Die Finanzen werden knapp
Lukaschenko bleibt in der Defensive. Er fordert, alle regimefeindlichen Graffiti zu entfernen und zu übermalen, sobald sie auftauchen. Er hat sogar angeordnet, dass Oppositionsflaggen, die unter der Oberfläche von zugefrorenen Seen eingelassen sind, herausgehackt werden.
Die andauernden Aktivitäten der Opposition haben der Regierung zusätzliche Kosten auferlegt, die sie nicht tragen kann. Die heutigen niedrigen Öl- und Kalidüngerpreise, Lukaschenkos Schliessung der Grenzen, der Exodus junger Menschen (einschliesslich der Techniker und anderer hoch qualifizierter Arbeitskräfte), der Widerstand von Fabrikarbeitern, die Sanktionen der EU und der USA sowie die Covid-Pandemie haben das Regime vor den finanziellen Ruin gestellt. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und die Europäische Investitionsbank (EIB) haben die Zusammenarbeit mit Minsk eingestellt, und der Internationale Währungsfonds (IWF) hat sich geweigert, dem Regime Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.
Infolgedessen waren die Behörden gezwungen, etwa 1,5 Mrd. $ der belarussischen Währungsreserven auszugeben, um den Wechselkurs des Rubels zu halten und die Staatsschulden zu decken. Aleś Alachnovič, ein unabhängiger belarussischer Ökonom, sieht das Regime auf einen wirtschaftlichen Kollaps in Zeitlupe zusteuern. Am 1. September verfügte die Zentralbank noch über Reserven in Höhe von 7,5 Mrd. $, aber nur etwa 40% davon waren in Fremdwährungen denominiert.
Putin und Lukaschenko – keine Männerfreundschaft
Das Finanzministerium sollte zwar in der Lage sein, das Land für einige Monate relativ stabil zu halten. Aber danach wird sich die finanzielle Fäulnis beschleunigen und viel sichtbarer werden. Das wiederum könnte eine weitere Welle von Protesten auslösen. Wie Alachnovič anmerkt, könnte das Haushaltsdefizit für 2020 rund 2 Mrd. $ erreicht haben und wird dieses Niveau wahrscheinlich auch 2021 erreichen. Lukaschenko wird nicht nur 4 Mrd. $ für den Schuldendienst aufbringen müssen, sondern auch weitere 2 Mrd. $, um das Handelsdefizit zu decken.
Um den Winter zu überstehen, wird Lukaschenko massive finanzielle Unterstützung aus Russland benötigen. Da der Kreml aber weiss, dass das Regime die Schulden nicht zurückzahlen kann, wird er seine Unterstützung wahrscheinlich zurückhalten oder an strenge Bedingungen knüpfen. Im Austausch für harte Währung wird der Kreml eine schwächere belarussische Präsidentschaft und wirtschaftlichen Zugang für russische Oligarchen und Staatsunternehmen fordern. Lukaschenko kann nicht hoffen, diese Forderungen zu erfüllen und gleichzeitig an der Macht zu bleiben.
Es ist kein Geheimnis, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin und Lukaschenko gegenseitig verachten. Jahrelang hat Lukaschenko den Kreml regelmässig betrogen, indem er sich nicht an die Vereinbarungen «Öl gegen Souveränität» gehalten hat (stattdessen bevorzugte er «Öl gegen Küsse»). Diese Geschichte erklärt, warum Russland nicht direkt interveniert hat, um die Proteste zu unterdrücken. Der Kreml könnte Lukaschenkos Sturz leicht verkraften, besonders wenn er durch einen russlandfreundlichen Nachfolger ersetzt würde.
Prorussische Partei im Entstehen
Zu diesem Zweck berichtet «The Insider» , eine in Moskau ansässige unabhängige Zeitung, dass der Kreml bereits eine neue prorussische Partei in Belarus bildet. Mit dem Ziel, belarussische Medienfiguren, herrschende Eliten und Regierungsbeamte für sich zu engagieren, wird die Partei «Volksrecht» bereit sein, sich gegen Lukaschenko (und für eine tiefere Integration mit Russland) auszusprechen.
Das Projekt «Volksrecht» wird vom russischen General Wladimir Chernov geleitet, der die früheren Bemühungen des Kremls, «farbige Revolutionen» in der ex-sowjetischen Welt zu vereiteln, geleitet hat. Chernov arbeitet nun daran, ein Netzwerk von bis zu 1200 potenziellen Kandidaten aus verschiedenen Oppositionsparteien aufzubauen. Ein Punkt im Programm der neuen Partei ist die Forderung nach Privatisierung, was den Verkauf der grössten belarussischen Unternehmen an russische Oligarchen oder staatliche Giganten wie Gazprom bedeuten würde.
Chernov hat ähnliche Kreml-Initiativen in Moldawien, Georgien und Armenien durchgeführt, wo Russland sympathisierenden Fraktionen der Opposition «erlaubte», undemokratische Regierungen zu stürzen. Belarus ist für den Kreml unvergleichlich wichtiger als diese anderen Länder, doch die Situation ist heikel. Angesichts der Erfahrungen in der Ukraine weiss Moskau, dass die Anwendung von Gewalt nach hinten losgehen könnte, indem dadurch ein Gefühl der gemeinsamen Identität und Solidarität in Belarus gefördert würde.
Auf die Sicherheitsdienste kommt es an
Natürlich ist das bereits geschehen, denn die Leute in Belarus bereiten sich darauf vor, im Frühjahr wieder auf die Strasse zu gehen. Nach Monaten des Lernens aus der Erfahrung und des Aufbaus ihrer Stärke werden sie ein formidabler Gegner für Lukaschenkos erschöpfte Sicherheitsdienste sein. Tatsächlich besteht immer noch die Chance, dass die unabhängige Oppositionsbewegung sowohl den Diktator besiegt als auch vermeidet, unter der Fuchtel Russlands zu landen.
Es ist also ein Trugschluss, das belarussische Volk habe kapituliert, nur weil nicht mehr jede Woche 200’000 Menschen in Minsk demonstrieren. Die Proteste haben sich lediglich verlagert und ihre Form für den Winter geändert.
Der wichtigste Faktor sind jetzt die Sicherheitsdienste, die Lukaschenko schützen. Bypol, eine Organisation von Sicherheitsmitarbeitern, die nun die Opposition unterstützen, obwohl sie immer noch für das Regime arbeiten, veröffentlicht immer mehr Material, das den Zusammenbruch der Disziplin und der Moral innerhalb der Omon (Bereitschaftspolizei), der staatstreuen Milizen und der Spezialkräfte dokumentiert.
Immer mehr Silowiki (staatliche Eliten) verlassen das Land, und diejenigen, die bleiben, tun dies nicht mehr aus Überzeugung. Das Regime, so scheint es, stirbt von innen heraus.
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Lukaschenkos Regime zerbröselt von innen heraus
Das belarussische Volk hat keineswegs kapituliert, nur weil nicht mehr jede Woche 200'000 Menschen in Minsk demonstrieren. Die Proteste haben nur die Form geändert. Ein Kommentar von Sławomir Sierakowski.