Nach der Schliessung der Balkanroute im März sind die Migrationsströme aus dem Süden der Welt nicht etwa versiegt, sondern haben sich nur auf andere Wege verlagert. So sind zuletzt Tausende Flüchtlinge, überwiegend aus Afrika, von der ägyptischen und der libyschen Küste aus nach Norden gestartet – und dabei in ihren oft völlig seeuntauglichen Booten gekentert. In den westlichen Medien erklingen angesichts der Tragödien im Anschluss daran oft flammende Aufrufe zu einer humaneren europäischen Flüchtlingspolitik – oder einer drastischen Erhöhung der Entwicklungshilfe, wie sie etwa auch die deutsche Regierung nun plant.
Verblüffend ist, dass sich der Blick vieler westlicher Politiker und Journalisten bislang eher selten auf die Länder richtet, aus denen die Menschen fliehen. Dabei sollte es selbstverständlich sein, an der Quelle des Flüchtlingsstroms nach den Ursachen zu forschen, statt an den Symptomen herumzudoktern und dann panikartig neues Geld in Projekte zu werfen, die bereits zuvor wenig erfolgreich waren. Mehr Ehrlichkeit und vor allem auch mehr Klartext gegenüber den Potentaten in Afrika wären schon deshalb hilfreich, weil nach Jahrzehnten des Stillstands Millionen von Schwarzafrikanern auf gepackten Koffern sitzen.
Eine Umfrage des Gallup-Instituts kommt zum Ergebnis, dass allein 70 Mio. der inzwischen fast 180 Mio. Nigerianer nach Norden aufbrechen würden, wenn sie dies könnten. Verwundern kann dies schon deshalb nicht, weil rund zwei Drittel der jungen Menschen dort keine Stelle haben. Die spärlichen Arbeitsplätze erhält man, wie fast überall in Afrika, oft nur durch Beziehungen und Schmiergeld.
Lieber Europa-Bashing als Selbstkritik
Wie der (oft einseitige) Blick des Westens verblüfft auch das Desinteresse der afrikanischen Medien. Selbst wenn dort einmal über Flüchtlinge berichtet wird, schwadronieren die Autoren zumeist über Versagen und Schuld Europas: Mit moralischem Unterton werden die vermeintliche Hartherzigkeit des Nordens, seine hohen Zäune und die «Festung Europa» angeprangert. Kaum kritisiert wird hingegen die Afrikanische Union, obwohl sie nicht einen einzigen Sondergipfel zur Flüchtlingsfrage einberufen hat. Versäumnisse einzugestehen, fällt Afrikas Eliten schwer. Schuld am eigenen Versagen sind immer die anderen.
Dabei sind die vielen Flüchtlinge Symptom einer Krankheit, die in den schon so lange verheerend schlecht regierten Staaten Afrikas wurzelt. Viele der Flüchtlinge stammen aus Somalia, wo es seit fast 25 Jahren keinen Staat mehr gibt. Allen Versuchen, demokratischere Strukturen zu schaffen, war kein Erfolg beschieden, weil in Somalia das Clanwesen alles durchdringt. Bei vielen anderen Fluchtländern handelt es sich – wie in den Fällen Gambia, Demokratische Republik Kongo oder Eritrea – um gescheiterte Staaten oder repressive Einparteistaaten, die ihre Bürger systematisch drangsalieren.
Mit dem Abschluss des umstrittenen Rückführungsabkommens zwischen der EU und der Türkei haben Afrikas Eliten zudem erkannt, dass man mit Flüchtlingen viel Geld verdienen kann. Die Regierung Kenias drohte damit, Hunderttausende ins Land geflohene Somalier in deren zerstörte Heimat zu deportieren. Dazu will man Dadaab auflösen, das grösste Flüchtlingscamp der Welt im Osten von Kenia. Begründung: Das Lager belaste die staatlichen Finanzen und sei eine Brutstätte des islamistischen Terrors. Dabei wird das Camp seit Jahren von der Uno finanziert.
Europa ist rat- und konzeptlos
Das Beispiel Kenia hat bereits Schule gemacht. Inzwischen fordert nun auch der westafrikanische Staat Niger, Durchgangsstation vieler Flüchtlinge aus Westafrika, von der EU mehr als 1 Mrd. €, um im Gegenzug Migranten auf dem Weg ans Mittelmeer zu stoppen. Sollten diese Erpressungsversuche Erfolg haben, würden künftig noch mehr Hilfsgelder in den Taschen der afrikanischen Eliten verschwinden.
Dass die Lage derart eskalieren konnte, liegt jedoch auch an der ausgeprägten Nabelschau Europas. Während man sich zum Beispiel in Deutschland seit langem die Köpfe über vergleichsweise unwichtige Themen heissredet, gibt es dort kaum Debatten zu den Brennpunkten dieser Welt in Nahost und Afrika. Auch einzelne Stippvisiten nach Afrika wie jüngst wieder einmal von Kanzlerin Merkel offenbaren eher die weit verbreitete Hilf- und Ratlosigkeit als einen kohärenten Plan.
Neben dem systematischen Aufbau von Ausbildungszentren und einer Kleinindustrie in diesen Ländern sowie viel stärkerem Nachdruck auf eine vernünftigere afrikanische Bevölkerungspolitik könnte ein solcher Plan darin bestehen, mit mehr Handel die Eigeninitiative in Afrika zu stärken – und gleichzeitig die fatale Abhängigkeit des Kontinents von der lähmenden Entwicklungshilfe zu mindern. Denn erst wenn Afrika eine Eigendynamik entfaltet und dazu die für einen funktionierenden Staat notwendigen Institutionen wie Verwaltung, Schulen oder Hospitäler baut und auch selbst führt, könnten die Flüchtlingsströme nach Norden allmählich kleiner werden.
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Millionen Afrikaner sitzen auf gepackten Koffern
Die Flüchtlingsströme aus Afrika sind nur das Symptom: Die Krankheit, somit die Ursache, ist die chronisch schlechte Regierungsführung fast überall auf dem Kontinent. Ein Kommentar von Wolfgang Drechsler.