Nicht nur in wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern auch in Medienberichten zum Wiederaufstieg Asiens in der Weltwirtschaft werden oft Vergleiche zwischen den beiden Milliardenländern Indien und China gezogen. In der Regel fällt das Urteil eindeutig zugunsten der Volksrepublik aus, die in den vergangenen vier Jahrzehnten den Sprung an die Weltspitze geschafft und auch die weitreichendste und erfolgreichste Armutsbekämpfung der Geschichte realisiert hat. Dieser Erfolg ist umso beachtlicher, als China nach dem Bürgerkrieg, nach den Verheerungen des «grossen Sprungs nach vorn» und danach der «Kulturrevolution» sich in einer viel katastrophaleren Lage befunden hatte als Indien nach dem Abzug der Briten.
Auf die Frage, warum Indien China hinterherhinkt und sich der Abstand in den vergangenen zwei Jahrzehnten gar noch vergrössert hat, gibt es viele Antworten. Sicher spielt im chinesischen Wirtschaftswunder auch der sprichwörtliche Pragmatismus der Chinesen eine wichtige Rolle, ein Pragmatismus, der stark im Diesseits verankert ist, derweil Indien ein seit Urzeiten jenseitsverhafteter Kulturkreis ist. Auch wird das politische System angeführt. Auf der einen Seite kann Indien stolz auf seine funktionierende und lebendige Demokratie sein, andererseits ist nicht zu übersehen, dass in Indien der Druck auf die politischen Entscheidungsträger, effizient für das Wohl der Bürger zu wirken, geringer ist als in China, wo der Entzug des «Mandats des Himmels» genauso als Damoklesschwert über den heutigen Machthabern schwebt wie über früheren Dynastien.
Das englische Erbe
Auch in der Geschichte können prägnante Bilder zuweilen mehr aussagen als wortreiche Analysen. Wir denken an das Foto, das nach der japanischen Kapitulation den hünenhaften Douglas MacArthur in krawattenloser Uniform neben dem strammstehenden, kleingewachsenen Hirohito im schwarzen Anzug zeigt. Oder das Foto von Indiens erstem Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru, der wie ein Zirkusboy vor der majestätischen vormaligen Vizekönigin Lady Mountbatten herumzappelt. Symbolisch steht dieses Bild für die Ambivalenz der jüngsten indischen Geschichte.
Im 18. Jahrhundert hatten Indien und China die Weltwirtschaft dominiert, ehe beide Länder im 19. Jahrhundert marginalisiert und erniedrigt wurden. Im Unterschied zu Indien wurde China nie zu einer Kolonie degradiert, allerdings hatten noch um 1900 die europäischen Kolonialmächte darüber spekuliert, China wie Afrika unter sich aufzuteilen. Immerhin hatte der British Raj zur Folge, dass London für die Verwaltung grosser Teile des indischen Subkontinents Verantwortung übernehmen musste, Städte gründete, eine landesweite Verkehrsinfrastruktur schuf und Institutionen wie Gerichte, Administration, Universitäten und Zeitungen etablierte.
Während die beiden Opiumkriege Mitte des 19. Jahrhunderts für China den fremden Feind klar positionierten, endete die britische Herrschaft in Indien mit einem sehr zwiespältigen Erbe. In Tat und Wahrheit setzten sich die einheimischen Eliten, die nun nach Abzug der Briten das Sagen hatten, in den von diesen geschaffenen Einrichtungen fest. Symbolisch steht dafür Neu Delhi, das als neue Hauptstadt für den British Raj geschaffen worden war und in dessen Paläste, Villen und Bungalows nun die neuen Herren einzogen und gar Mitglied derselben Clubs wurden, in die vor nicht allzu langer Zeit Indern der Zutritt verwehrt worden war.
Wer Eliten und Institutionen betrachtet, wird kaum darum herumkommen, Indien als ein für Westler sehr zugängliches Land zu bezeichnen. Dies hängt nicht nur mit der weiten Verbreitung der englischen Sprache zusammen, sondern spiegelt sich auch im Staatsaufbau. Die Rechtsordnung ist britisch geprägt. Ich kann, wenn ich Bedarf habe, in Indien einen Advokaten heuern, der nicht nur linguistisch meine Sprache spricht, sondern der auch ein mit meinen Vorstellungen eng verwandtes Rechtsstaatsverständnis hat. Obschon Japan und China sehr verschieden sind, ist die Rechtsordnung ebenfalls stark vom Konfuzianismus geprägt. Und in beiden Ländern ist die Idee, dass der Staat gegenüber dem Bürger im Unrecht sein könnte, unvorstellbar.
Am nachhaltigsten hat das britische Erbe in Indien die höhere Bildung geprägt. Das grösste Prestige haben englischsprachige Privatschulen. Wer es sich leisten kann und qualifiziert ist, studiert mit Vorliebe an US- oder britischen Universitäten. Später gehört man als Freiberufler, Manager oder Beamter einem «Old Boys Network» an und bemüht sich, mit bestem englischen Akzent zu parlieren. Schon vor der Unabhängigkeit und erst recht nach der Machtübernahme der Kongresspartei kamen wichtige indische Politiker aus diesem exklusiven Zirkel. Nehru, Muhammad Ali Jinnah (der spätere Gründer Pakistans), Mahatma Gandhi, Krishna Menon (ein enger Mitstreiter Nehrus) und viele andere hatten in London Jus studiert und das Anwaltspatent erworben.
Ganz anders sieht demgegenüber die Welt aus, aus der Narendra Modi, seit Ende Mai 2014 Indiens Premierminister, stammt. Mit nur minimaler Schulbildung ausgestattet, musste Modi schon früh als Teaboy seinen Lebensunterhalt verdienen. Studieren in fernen Landen lag da schon gar nicht drin. Während andere indische Politiker sich in der Oxford Union als beschlagene Debattierer hervortaten, fühlt sich Modi im Englischen nur wenig zu Hause. Umso unbestrittener ist dafür die indische Identität des Gujarati. Da gibt es keine Zweifel und Selbstzweifel, die, wie es bei manchen verwestlichten Indern der Fall ist, auch ein fruchtbarer Boden für Arroganz oder fatales Nachäffen von westlichen intellektuellen Modetrends sein können. Unverkennbar ist, dass die langen Jahrzehnte einer sozialistischen Planwirtschaft, einer prosowjetischen Aussenpolitik und eines wegen des Regulierungswahns anämischen Wirtschaftswachstums auch mit diesen Ambivalenzen zu tun hatten.
Bald wird die Hälfte des Mandats der Modi-Regierung vorbei sein. Viel ist versprochen worden, ein erstes umfassendes Revirement des Kabinetts hat stattgefunden, etliches ist erreicht worden, aber wichtige Reformen stehen noch aus. Niemand kann bestreiten, dass Indiens Wirtschaft ungeachtet einiger widriger externer Entwicklungen heute besser dasteht als in der von stets neuen Skandalen und politischem Immobilismus geprägten zweiten Amtsperiode von Modis Vorgänger Manmohan Singh. Ebenso ist unverkennbar, dass die Fundamente der indischen Volkswirtschaft solide sind. Es ist aufschlussreich, dass heute wichtige ostasiatische Investoren Indien gegenüber China den Vorzug geben.
Gute Aussichten
Externe Schocks und geopolitische Verwerfungen sind nie ausgeschlossen, doch stehen die Aussichten für den zweiten Teil von Modis Amtszeit günstig. Zu einem guten Teil hat dies damit zu tun, dass Indien, wenn auch mit Verzögerung, dem Pragmatismus vor ausgeleierten Ideologien den Vorzug gibt. Die überfällige Abschaffung der Planungskommission war ein wichtiger Fingerzeig für diese Neuorientierung. Von Gewicht ist auch, dass Modi in der Führung der Geschäfte nicht nur eine stetige Hand beweist, sondern auch keinen Hehl aus seinem und seines Landes Selbstvertrauen macht. Von der Kampagne «Make in India» bis zu weitreichenden Erleichterungen für ausländische Investitionen in mehreren Schlüsselbereichen zeigt sich ein modernes Indien, das nicht mehr von der Furcht vor der «Foreign Hand» und von antikapitalistischen Reflexen geprägt wird.
Auch die Tatsache, dass dieser Aufbruch ohne massive Korruption, die früher endemisch zu sein schien, vonstattengeht, stimmt zuversichtlich. Schliesslich hat es Modi auch geschafft, zwischen Bundesstaaten einen Standortwettbewerb zur Anziehung von Investoren auszulösen. Indien zeigt sich der Welt in diesen Tagen mit frischem und erfreulichem Selbstbewusstsein.
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Modis Modernisierungsschub
Heute geben wichtige ostasiatische Investoren Indien gegenüber China den Vorzug. Das hat auch damit zu tun, dass Indien unter Narendra Modi Pragmatismus vor Ideologie stellt. Ein Kommentar von Urs Schoettli.