Der Ölpreis als Seismograf der Weltwirtschaft
Der Ölpreis hat dieses Jahr stark geschwankt. Er spiegelt die unsicheren wirtschaftlichen Aussichten.

Im freien Fall: Zwei Händler beim Ölpreissturz an der Börse in New York. (Foto: Daniel Barry/Getty Images)
Ein Fass Rohöl der Qualität Brent kostet heute 65 US-Dollar und damit fast gleich viel wie am ersten Handelstag 2018. Zwischen diesen beiden Terminen vollführte der Ölpreis allerdings eine wahre Berg-und-Tal-Fahrt. Kein anderer wirtschaftlicher Indikator spiegelt so unmittelbar die Hoffnungen und Ängste, welche dieses Jahr sowohl Anleger als auch Wirtschaftsakteure umtreiben. Auch nicht der Dollar oder die Aktienkurse, denen normalerweise diese Rolle zugesprochen wird. Wie ein Seismograf zeichnet der Ölpreis offene und verborgene Risiken für die Weltwirtschaft auf.

Quelle: Thomson Reuters
Dabei startete die Weltwirtschaft mit Schwung ins neue Jahr. Nachdem 2017 die meisten Länder die kräftigsten Wachstumssprünge seit 2010 verzeichnet hatten, waren sich Ökonomen einig, dass der globale Aufschwung 2018 und 2019 weitergeht, allenfalls etwas weniger synchron, aber gleichwohl kräftig. Experten setzten ihre Prognosen für den Ölpreis von Monat zu Monat höher. Der Preis stieg tatsächlich. Im Mai und Juni erreichte er mit 79 Dollar die höchsten Notierungen seit dreieinhalb Jahren.
Politik gewinnt die Oberhand
Mitten in diese Siegesserie platzte im Juli die Nachricht, dass der Handelsstreit zwischen den USA und China eskalieren könnte. Wenn sich die beiden grössten Volkswirtschaften in einen Zollkrieg verstricken, wird die Weltwirtschaft zwangsläufig Schaden nehmen. Da es sich bei beiden Staaten auch gleichzeitig um die grössten Ölverbraucher handelt, wundert es kaum, dass der Fasspreis im Juli abrupt absackte.
Die Öl- und die Weltwirtschaft traten so in eine Phase ein, in der politische Schlagzeilen die Oberhand gewannen. In der Folge sprangen die Notierungen hin und her. Einerseits drohte Donald Trump dem Iran mit Sanktionen. Gleichzeitig fiel wegen der politischen Unruhen in Venezuela die dortige Erdölförderung aus. Solche absehbaren Angebotskürzungen beflügelten den Ölpreis. Andererseits gaben Opec-Staaten wie Saudiarabien bekannt, es werde den Förderausfall ausgleichen, in dem es mehr Öl auf den Markt werfe. Und Donald Trump verkündete über Twitter, einige Länder erhielten Ausnahmegenehmigungen, um weiter vom Iran Öl beziehen zu können. Am Markt kam die Sorge auf, dass kurzfristig zu viel Öl zur Verfügung stehen könnte, was wiederum den Preis drückte.
Prognosen bleiben zuversichtlich
Bei den damaligen Kommentaren zum Marktgeschehen fällt besonders auf, wie viele Konjunkturforscher eingestehen, dass sie einfach nicht wissen, was in den nächsten Monaten passieren wird. Und wie es in solchen Fällen in der Regel der Fall ist, hielten die meisten von ihnen an den bisherigen und überwiegend zuversichtlichen Prognosen fest. Nirgendwo zeigt sich dieser Zwiespalt besser als bei den Vorhersagen der Internationalen Energieagentur im August. Zwar schreibt sie einleitend, dass die Ölnachfrage wegen des sino-amerikanischen Disputs abnehmen könnte. Ihre konkreten Vorhersagen für 2018 und 2019 revidierte sie indes sogar leicht nach oben.
Der Ölpreis schoss im August und September in die Höhe. Zuversicht machte sich breit, dass am Ende die weltweite Erdölnachfrage das Angebot auch weiterhin übertreffen werde. Erneut traten Marktbeobachter hervor, die versprachen, dass die Notierungen auf bis zu 100 Dollar pro Fass steigen könnten. Handelsdispute und Förderkrisen wurden auf einmal nur noch einseitig interpretiert: Sie würden den Ölpreis noch forcieren. Wer auf die Kehrseite der Medaille verwies, befand sich in der Minderheit.
Umschwung nach unten
Dann kam der tiefe Sturz. Zusammen mit den Aktienkursen fiel auch der Ölpreis im Oktober ins Bodenlose: Brent sackte von 88 auf heute 65 Dollar ab. Offiziell wurde aus dem Bullen- ein Bärenmarkt. Die scharfe Korrektur spiegelt sicherlich einen Stimmungsumschwung der Ökonomen. Sie sorgen sich mehr als zuvor, dass der Aufschwung enden könnte. Die Indizien nehmen zu. Immer mehr Frühindikatoren fallen. Chinas Konjunktur steht auf ihrer Beobachtungsliste ganz oben. Aber auch in Europa tauchen inzwischen eindeutige Abwärtssignale auf. Neben Italien weist diese Woche Deutschland einen Wachstumsrückgang im Quartalsvergleich aus, weil der Welthandel stockt.
Die bange Frage Mitte November lautet: Wie kräftig wird der globale Abschwung ausfallen? Viel hängt davon ab, wie die führenden Wirtschaftsnationen ihren Handelsdisput austragen. Siegt die politische Vernunft? Vermag man sich zu einigen?
Auch hier bietet sich der Weltrohölmarkt als Anschauungsbeispiel an. Denn um den Ölpreis zu stabilisieren, reichen wirtschaftliche Fundamentaldaten nicht aus, vielmehr müssen die Förderstaaten zusammenarbeiten. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Protagonisten Saudiarabien, USA, Russland, Iran und Irak miteinander sprechen und sich auf ein gemeinsames Ziel verständigen. Wie das angesichts des diplomatischen Scherbenhaufens, der in den vergangenen zwei Jahren hinterlassen wurde, möglich sein soll, ist ein Rätsel. Auch die Weltwirtschaft hängt gegenwärtig am Faden der internationalen Politik, und das ist nicht gut.
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