Die Welt ertrinkt in Schulden
Auf jeden Menschen auf der Erde entfallen gut 20'000 $ Schulden. Das ist ein historischer Rekord. Ist das ein Problem?

In China sind die Privatschulden besonders stark angestiegen: Blick auf die Wirtschaftsmetropole Shanghai. Foto: Fred Dufour (AFP)
Beginnen wir mit einer Zahl:
152’000’000’000’000
152 Billionen Dollar. So hoch war Ende 2015 gemäss einer neuen Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) das globale Volumen aller ausstehenden Schulden von privaten Haushalten, Unternehmen (ohne Banken und Versicherungen) und Staaten.
Das sind, stark vereinfacht gesagt, gut 20’000 Dollar für jeden Menschen auf dem Planeten.
Das ist ein historischer Rekord. Nie zuvor in der Historie, auch nicht nach den Weltkriegen, lastete auf der Weltwirtschaft ein höherer Schuldenberg als heute. Er entspricht derzeit gut 225 Prozent des Weltbruttoinlandprodukts.
Bevor wir zur Frage kommen, was das alles zu bedeuten hat, schauen wir uns die aktuelle Situation etwas genauer an. Die folgende Grafik aus der IWF-Studie zeigt die Entwicklung der Schulden über die vergangenen fünfzehn Jahre:

Die blaue Kurve zeigt den globalen Stand der Bruttoschulden in Prozenten des Welt-BIP. Die rote Kurve zeigt den Schuldenstand ohne die USA und China.
Eindrücklich zu sehen: Nach der Finanzkrise von 2008 kam es zu einer kurzen Phase des Schuldenabbaus (im Jargon Deleveraging genannt), doch ab 2011 stiegen die Schulden wieder ungebremst weiter auf das aktuelle Rekordniveau.
Wenn in der Öffentlichkeit von Schulden gesprochen wird, dann drehen sich die Schlagzeilen meist um die Staatsschulden: Griechenland, Italien, Portugal und auch Frankreich oder Japan bewegen die Gemüter.
Doch im Vergleich mit den privaten Schulden sind die Staatsschulden gar nicht so hoch. In der aggregierten Betrachtung entfallen zwei Drittel aller Schulden, also gut 100 Billionen Dollar, auf die privaten Haushalte und die Unternehmen (stets unter Ausklammerung des Finanzsektors). «Nur» rund ein Drittel entfällt auf Schulden der öffentlichen Hand.
Die folgenden Grafiken verdeutlichen dies:

Diese Grafik zeigt die Situation in den Industrieländern. Die blaue Kurve zeigt den totalen Schuldenstand in Prozenten des BIP, die gelbe Kurve das Volumen der Schulden des Privatsektors und die rote Kurve die Schulden der Staaten.
Die privaten Schulden in den Industrieländern sind mit gegen 200 Prozent des BIP also massiv höher als die Staatsschulden mit rund 80 Prozent des BIP (Achtung: Die Skala beginnt nicht bei null, daher sieht das Bild leicht verzerrt aus).
Hier die Situation in den Emerging Markets, also in Schwellenländern wie China, Indien, Brasilien und Indonesien:

Auch hier: Die blaue Kurve zeigt das Gesamtvolumen der Schulden, die gelbe Kurve den Privatsektor und die rote Kurve die Staatsschulden (die grünen Kurven können Sie für diese Betrachtung ignorieren).
Schauen wir uns diese beiden Grafiken nun noch etwas genauer an. Die erste Grafik für die Industrieländer zeigt eindrücklich: In der Zeit vor der Finanzkrise von 2008/09 entwickelten sich die Staatsschulden (rote Kurve) stabil bis rückläufig. Der Privatsektor (gelbe Kurve) baute seine Schulden dagegen deutlich auf: von unter 150 auf gut 180 Prozent des BIP. Ein wichtiger Treiber dieser Entwicklung waren die schuldenfinanzierten Immobilienblasen in den USA, Grossbritannien, Spanien oder Irland.
Im Nachgang der Finanzkrise, also ab 2009, entwickelten sich die privaten Schulden in den Industrieländern stabil bis leicht rückläufig, während die Staatsschulden anstiegen. Diese beiden Effekte haben sich teilweise kompensiert, mit dem Resultat, dass die Gesamtschulden (blaue Kurve) seit 2011 nicht mehr kräftig gestiegen sind.
Extremer ist das Bild in den Schwellenländern: Auch dort stiegen die privaten Schulden (gelbe Kurve) in den Jahren vor der Finanzkrise deutlich, während die Staatsschulden (rote Kurve) markant sanken. Im Nachgang der Finanzkrise haben aber beide Sektoren ihre Schulden deutlich erhöht, mit dem Resultat, dass die Gesamtschulden (blaue Kurve) kräftig steigen.
Für die Ökonomen des IWF ist klar: Nicht das Niveau der Staatsschulden sollte primär Anlass zu Sorgen geben, sondern ein rascher, starker Anstieg der Schulden im Privatsektor. Denn steigen die Schulden der privaten Haushalte und/oder Unternehmen kräftig an, kann das ein Warnsignal für eine bevorstehende Finanzkrise sein.
Schauen wir uns also die Entwicklung der Schulden im Privatsektor in den einzelnen Ländern im Zeitraum der vergangenen acht Jahre an. Hier zunächst die Industrieländer:

Die blauen Balken zeigen kumulativen Anstieg der Schulden des Privatsektors, in Prozenten des BIP, in der Zeit zwischen 2008 und 2015. Der rote Punkt zeigt dasselbe für die Jahre zwischen 2013 und 2015.
In einigen Staaten hat ein Deleveraging-Prozess stattgefunden, die privaten Haushalte und Unternehmen haben Schulden abgebaut: Grossbritannien, Spanien, Slowenien, Irland, die USA, Dänemark, auch Deutschland und Japan.
In anderen Staaten haben die privaten Schulden dagegen stark zugenommen: Hongkong, Zypern, Singapur, Kanada. Auch in der Schweiz (Abkürzung: CHE) sind die privaten Schulden um fast 40 Prozent des BIP gestiegen.
Und hier das Bild in den Emerging Markets, dargestellt über den gleichen Zeitraum:

Hier ist das Bild eindrücklich: In einigen wenigen Staaten wie Kasachstan, Pakistan und Ungarn hat der Privatsektor in der Zeit nach 2008 Schulden abgebaut.
Grösstenteils haben die privaten Haushalte und/oder Unternehmen in den Schwellenländern in den vergangenen Jahren aber massiv ihre Schulden aufgebaut (alle Länderabkürzungen finden sich auf Seite 47 des IWF-Reports).
Der Gorilla im Raum: China.
Dort sind die Schulden des Privatsektors innerhalb weniger Jahre um fast 75 Prozent des BIP in die Höhe geschossen. Auf diesen Umstand, die extreme Schuldenexplosion in China, haben wir in diesem Blog bereits hier und hier hingewiesen.
Aber wieso sind hohe private Schulden denn überhaupt ein Problem? Ist es nicht so, dass jedem Schuldner ein Gläubiger gegenübersteht und das Ganze bloss ein Nullsummenspiel ist?
Leider nein.
Werden hoch verschuldete private Haushalte und Unternehmen von einer Rezession getroffen, brechen oft ihre Einnahmen weg. Ihr Einkommen reicht nicht mehr aus, die Schulden zu bedienen. Die Wirtschaft leidet dann unter einem Schuldenübergang, und wenn die Haushalte und Unternehmen alle gleichzeitig beginnen, ihre Bilanzen zu sanieren und Schulden abzubauen (Deleveraging), bricht die aggregierte Nachfrage in der betreffenden Volkswirtschaft weg.
Der Ökonom Richard Koo vom Nomura Research Institute in Tokio hat für diesen Prozess den Begriff «Bilanzrezession» geprägt ( hier mehr dazu ).
Wie dieser Prozess abläuft, zeigt die folgende Grafik am Beispiel der USA, Grossbritanniens und der Eurozone:

Die rote Kurve zeigt die Entwicklung in den USA, die gelbe Kurve steht für Grossbritannien und die blaue Kurve für die Eurozone.
Die obere Grafik zeigt die Entwicklung für diese drei Volkswirtschaften im Privatsektor: Hier ist deutlich zu sehen, wie die private Verschuldung vor dem Ausbruch der Finanzkrise (schwarze, vertikale Linie) stark steigt. Danach fiel der Privatsektor in den USA und Grossbritannien in einen Deleveraging-Prozess und baute seine Schulden ab. In Europa ging der Schuldenaufbau noch weiter und kam erst mit dem Ausbruch der Eurokrise im Jahr 2010 zum Erliegen.
Die untere Grafik zeigt, was während dieser Zeit des privaten Deleveragings mit den Staatsschulden geschah: Sie stiegen in allen drei Wirtschaftsräumen markant an. Das erklärt sich mit den Folgen der Finanzkrise: der Rezession, Bankenrettungen sowie erhöhten Ausgaben für Konjunkturstützungsprogramme und Arbeitslosenvergütungen.
Die wichtige Erkenntnis auch hier: Nicht hohe Staatsschulden waren das Problem oder gar der Auslöser der Krise, sondern stark gestiegene Privatschulden. Die hohen Staatsschulden waren bloss die Folge der Krise.
Und wer weiss: vielleicht werden wir im Verlauf der kommenden Jahre das gleiche Muster in China wieder sehen.
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