Europas nächster Wahlkrimi
Nach Grossbritanniens Brexit-Desaster könnte auch der italienische Premier mit einem Referendum Schiffbruch erleiden.

Sagt Matteo Renzi im Oktober bereits «arrivederci»? Für die Wirtschaft würde das nichts Gutes bedeuten. Foto: Alik Keplicz (Keystone)
Zwei Regierungschefs haben ihre politische Zukunft an einen Volksentscheid gebunden. Grossbritanniens Premier David Cameron erlitt damit im Juni Schiffbruch, als 52 Prozent der Briten unerwartet für einen Austritt aus der EU optierten.
Nun geht es für Italiens Regierungschef Matteo Renzi um alles. Er hatte dafür geworben, das Herzstück der institutionellen Reformen, nachdem sie in einem jahrelangen Hin und Her vom Parlament abgesegnet worden sind, den Wählern direkt zur Abstimmung vorzulegen. Und er toppte den Vorschlag mit dem Versprechen, zurückzutreten, falls das Reformpaket abgelehnt werden sollte. Das Verfassungsgericht hat dem Begehren diese Woche stattgegeben. Am 20. oder 27. November wird das Referendum voraussichtlich stattfinden.
Nach Britanniens Brexit-Desaster bestehen berechtigte Befürchtungen, dass Matteo Renzi mit seinem Vorstoss derselben Fehleinschätzung aufgesessen ist wie sein inzwischen entlassener Amtskollege Cameron. Beide hatten ursprünglich vor allem die parteiinternen Gegner im Visier, als sie zum jeweiligen Referendum aufriefen. Ereilt Renzi das gleiche Schicksal wie Cameron?
Worüber abgestimmt wird
Italien gilt im Ausland zwar als chronisch reformfaul. Aber seit dem Sturz der Berlusconi-Regierung und dem drohenden Austritt aus der Eurozone im Jahr 2011 wurden unzählige Gesetzesdekrete und Gesetze erlassen, um Institutionen, Verfahren und Regeln zu ändern, vorwiegend in sozialen und wirtschaftlichen Fragen.
Manche waren widersprüchlicher Natur, und häufig erwiesen sie sich leider als wenig wirksam, weil es bei ihrer Umsetzung hapert. Aber umgebaut, gekürzt und reformiert wird seit Jahren an allen Ecken und Enden.
Vereinfacht gesagt, handelt es sich um vier wichtige Reformpakete:
Noch die Regierung Monti beschloss 2011 eine Rentenreform, mit der das Rentenalter für Frauen und Männer vereinheitlicht und bis 2017 stufenweise auf 67 Jahre erhöht wird. (Sie führte vorübergehend zu dem kontraproduktiven Effekt, dass die Jugendarbeitslosigkeit stärker zunahm, wie der Ökonom Tito Boeri von der Bocconi-Universität herausgefunden hat.
2014/15 wurden mehrere Dekrete beschlossen, die das Arbeitsrecht reformierten – der sogenannte Jobs Act der Regierung Renzi. Er sieht unter anderem finanzielle Anreize für Einstellungen mit unbefristeten Arbeitsverträgen vor. Eine Initiative, um das in Italien weit verbreitete Problem des sogenannten Prekariats zu verringern. Wie die unten stehende Grafik zeigt, hat sie tatsächlich dabei geholfen, dass sich die Lage am Arbeitsmarkt entspannte, wenngleich vorerst nur minimal.
Eine Wahlrechtsreform, die einen Mehrheitsbonus vorsieht, um leichter zu regierungsfähigen Mehrheiten zu gelangen, wurde zwischen Renzi und Oppositionsführer Berlusconi 2014 ausgehandelt. Sie ist deshalb vor allem in der Linken stark umstritten.
Kaum weniger schwierig verlief der parlamentarische Prozess, um eine Reihe politisch-institutioneller Verfassungsreformen zu verabschieden. Unter anderem wird das Zweikammersystem modifiziert. Der Senat verliert seine gesetzgebende Funktion (ausgenommen: Verfassungsrevisionen), und die Zahl der Senatoren wird massiv verringert. Auch werden die Provinzen abgeschafft.

Im November-Referendum stehen nur die Verfassungsreformen unter Ziffer 4 zur Disposition. Neben dem Senat und den Provinzen geht es hierbei auch um neue parlamentarische Regeln für Gesetzesdekrete, die Wahl des Verfassungsgerichts, die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Regionen, eine Anhebung der Mindestunterschriftenzahl von Volksinitiativen etc.
Vom Stimmbürger wird eine Bewertung komplexer verfassungsrechtlicher Änderungen verlangt. Es geht nicht um eine Generalabrechnung mit Premierminister Renzi und schon gar nicht um ein Urteil über den Erfolg oder Misserfolg der Wirtschaftspolitik der Regierung.
Die anhaltende Stagnation, die nicht enden wollenden Einkommensverluste und die schwelende Bankenkrise, worüber meine Kollegen Tobias Straumann und Mark Dittli in diesem Blog bereits ausführlich geschrieben haben, sowie die Lösung der Flüchtlingsproblematik sollten die Wähler an jenem Abstimmungstag für einmal ausklammern.
Genau das hat Matteo Renzi jedoch verhindert, indem er das Verfassungsreferendum zum persönlichen Plebiszit hochspielte. Das war ein grosser Fehler. Renzi rudert deshalb inzwischen zurück. An einem Parteianlass in Bologna sprach er vergangenen Dienstag das Problem direkt an: Es sei falsch gewesen, das Referendum zu einer Bestätigungswahl des Premiers zu erklären. Es gehe um die Sache, nicht um die Person. Die Fakten sollten den Ausschlag geben, nicht der Bauch. Anders, als es in Grossbritannien passiert ist.
Risiko Investorenstreik
Tatsächlich steht viel auf dem Spiel. Ein Sieg der Renzi-Gegner im Referendum hätte zwangsläufig auch wirtschaftliche Konsequenzen. Das Land gälte plötzlich wieder als unregierbar. Die These vom nicht enden wollenden Reformstau wäre belegt. Ausländische Investoren würden sich dann erneut zurückziehen. Italien wäre an seiner Achillesferse getroffen. Es geht dabei gar nicht so sehr um die Käufer italienischer Staatsanleihen, denn die Europäische Zentralbank springt hier ein, und vermutlich auf Jahre hinaus.
Aber das Land kann seit Jahren kaum ausländische Direktinvestitionen anziehen. Italien verpasst damit die Chance auf Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze. In einer vom Beratungsunternehmen Ernst & Young aufgestellten Rangliste, welche europäischen Länder durch ausländische Firmenaufkäufe oder -beteiligungen die meisten Arbeitsplätze im Inland generierten, schaffte es Italien 2015 nicht einmal unter die Top 20! 2016 lässt sich eine minimale Verbesserung im Vergleich zu den Vorjahren ablesen, wie die Grafik zeigt.

Die Gefahr besteht nun, dass es mit dieser Erholung vorbei ist, bevor sie an Fahrt gewonnen hat. Im November wissen wir mehr.
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