Zu Tode gespart
Der Sparkurs ist schuld, dass die anfängliche Rechnung nach der Euroschuldenkrise vermutlich nicht aufgehen wird. Die Austeritätspolitik ist gescheitert.

Kein Geld mehr für Bildung: Studenten protestieren im November 2011 in Rom gegen die Austeritätspolitik der Regierung. Foto: Guido Montani (Keystone)
Europas Wirtschaft ist wieder auf Wachstumskurs. Siebeneinhalb Jahre nach Ausbruch der Euroschuldenkrise werden selbst in Südeuropa neue Stellen geschaffen, investieren Unternehmen und blicken die Bürger zuversichtlicher in die Zukunft. Die Realität gleicht zunehmend jenem Szenario, das Befürworter eines harten Sparkurses ab 2010 zeichneten: auf eine schmerzvolle Umbauphase, in der jedes Land seine Staatsfinanzen in Ordnung bringt und die Wirtschaftsstrukturen modernisiert, würden sie anschliessend gestärkt hervorgehen und mittelfristig solide wachsen. An den Finanzmärkten spricht man kurzum von «short pain, long gain».
Ob sich diese Vorhersage nun tatsächlich bewahrheitet, ist allerdings ungewiss. Das liegt nicht so sehr daran, dass längst nicht alle wünschenswerten Strukturreformen durchgeführt wurden. Sondern der Sparkurs selbst ist Schuld, dass die anfängliche Rechnung vermutlich nicht aufgehen wird. Die Austeritätspolitik ist gescheitert.
Beginnen wir zunächst mit einem Überblick.
Die betroffenen Länder in Südeuropa haben nach 2010 ihre Staatsdefizite deutlich verringert.

Quelle: Thomson Reuters
Das geschah über Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen. Ausserdem nahmen die Zinsausgaben ab. Denn die Europäische Zentralbank drückte die Leitzinsen nach unten. Sie intervenierte ausserdem in den Jahren 2010/12 sowie seit 2014/15 direkt am Kapitalmarkt, kauft Anleihen und andere Wertschriften und sorgt so für künstlich niedrige Zinsen in allen Laufzeiten.
Die Schuldenberge der Staaten sind trotzdem nicht kleiner geworden. Das zeigt der folgende Chart.

Quelle: Thomson Reuters
In Italien liegt er heute über eine halbe Milliarde Euro höher als bei Ausbruch der Griechenlandkrise 2010. In Spanien hat er sich fast verdoppelt. In beiden Ländern zeichnet sich keine Trendumkehr ab. Die Schulden wachsen weiter. - Die meisten Ökonomen schauen aber nicht auf den absoluten Schuldenstand, sondern auf den relativen: im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP, engl. GDP). Griechenland beispielsweise ist gemessen an der eigenen Wirtschaftskraft hoffnungslos überschuldet. Die Schuldenquote beträgt 180 Prozent des BIP.

Quelle: Thomson Reuters
Der Chart zeigt die Schmerzphase: Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Zypern kippten in eine Rezession. Das BIP schrumpfte, worauf die Schuldenquote noch stärker zunahm als der nominale Schuldenstand.
Die «Short pain, long gain»-These geht davon aus, dass dieser negative Kreislauf dreht, sobald die Wirtschaft wächst. Nimmt das BIP deutlich schneller zu als die Schulden, sinkt die Quote. In Deutschland ist das sichtbar. In den Problemländern vorerst nur in Portugal. 2018 dürfte in Italien erstmals die Schuldenquote zurückgehen. Geht die Formel also auf? Vermutlich nicht.
Schuld ist die Austeritätspolitik. Die an und für sich sinnvolle Konsolidierung der Staatsausgaben, mit dem Ziel, den Gläubigern der verschuldeten Staaten zu signalisieren, dass die Verschuldungsspirale gestoppt wird, setzte die falschen Prioritäten. Es wurde nicht nur vorübergehend eine Rezession ausgelöst, sondern das langfristige Wachstumspotenzial zerstört.
Italien: Der Staat verabschiedet sich
Ökonomen der italienischen Bank BNL liefern dazu nun detaillierte Zahlen für den Fall Italien. Sie geben zu denken. Bei den Staatsausgaben betrafen die grössten Rückgänge den Abbau von Investitionsausgaben. Öffentliche Investitionen wurden zwischen 2009 und 2016 von 53 auf 35 Milliarden Euro zusammengestrichen. Betroffen sind nicht nur der Strassenbau (–20 Prozent) und der übrige Tiefbau, sondern auch die Neuanschaffungen von Computern und Informatikausrüstungen (–70 Prozent). Die staatliche Forschung und Entwicklung verringerte sich um ein Zehntel.
Gemessen am BIP sanken die staatlichen Investitionen von 5,2 Prozent (2009) auf 3,4 Prozent (2016). Dabei handelt es sich nicht allein um Sünden in der Anfangsphase der Eurokrise, als Silvio Berlusconi regierte und nach seinem Sturz Mario Monti dem Land eine Austeritätskur verschrieb. 2014 und 2015 stieg der Anteil der öffentlichen Investitionen sogar. Aber 2016 wurde er erneut um 0,7 Prozentpunkte reduziert.
In einer Wirtschaftskrise, in der die privaten Unternehmen ihre Investitionen drosseln, sollte der Staat ihnen Hand bieten. Stattdessen verabschiedete er sich und verschlimmerte dadurch die Krise. Zwischen 2009 und 2016 sind in Italien die öffentlichen Beiträge an Investitionen der Privatwirtschaft von 23 auf 16 Milliarden Euro gekürzt worden.
Die Liste solcher Fehlentwicklungen ist lang. Eindrücklich ist der Ausstieg des Staats aus dem Bildungssektor. Der Chart der BNL-Ökonomen zeigt die öffentlichen Ausgaben in Euro für Schulen und Hochschulen pro Kopf der betroffenen Bevölkerung der unter Dreissigjährigen für Italien (rot), Frankreich (blau) und Deutschland (grau).
Bildungsausgaben pro Kopf (Alter 0 bis 29 Jahre), in Euro

Quelle: BNL
Während Deutschland sich sein Bildungssystem jedes Jahr 130 Milliarden Euro kosten lässt und die staatlichen Ausgaben dafür seit 2010 um rund 10 Prozent erhöht haben, drosselte Italien im gleichen Zeitraum die Bildungsausgaben um 5 Prozent auf 65 Milliarden Euro. Es liegen Welten zwischen den politischen Prioritäten in den beiden Ländern. Die verfehlte Sparpolitik Italiens, die ähnlich auch in den anderen südeuropäischen Krisenländern betrieben wurde, hat das Wachstumspotenzial ausgehöhlt. Die Folgen werden erst in den kommenden Jahren sichtbar.
Wenn Italien und seine Partnerstaaten in der Peripherie nun wieder wirtschaftlich wachsen, ist das vermutlich nur eine vorübergehende Aufhellung. Der momentane Aufschwung wird die langfristigen Wertschöpfungseinbussen und den Wohlstandsverlust nicht aufhalten. Oder anders formuliert: Short gain, but long pain.
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