Die Frage, wann die Zinsen erhöht werden, mag albern klingen in einer Zeit, in der sich die Notenbanken weltweit zu einem vorderhand niedrigen Zinsniveau bekennen. Doch wir müssen aus den Geschehnissen Lehren ziehen. Zehn Jahre nach der grossen Finanzkrise lagen die Zinsen immer noch sehr tief, in Europa und Japan gar im Minus. Mit einer Pandemie rechnete niemand. Doch sie kam. Und der Handlungsspielraum der Zentralbanken war just dann, als sie ihn gebraucht hätten, beschränkt.
Im Nachgang der Krise glaubten Regierungen, die Haushaltsdefizite reduzieren zu müssen, die meisten taten dies auch. Das mag erklären, warum die Erholung allgemein nur schwach ausfiel, obwohl die Notenbanken zur Hilfe eilten. Sie hielten die Zinsen lange auf niedrigem Niveau, länger, als sie es sich ursprünglich vorgestellt hatten, und sie behielten die unkonventionelle Politik bei oder rückten nur in Schneckentempo davon ab. Sie verfeinerten ihre Kommunikationspolitik und führten die Forward Guidance ein. Fristen für den Rückzug der neuen geldpolitischen Instrumente wurden gesetzt – und verstrichen.
Dann begannen die Notenbanker, Bedingungen festzulegen, unter denen sie ihre Politik normalisieren würden, die State Contingent Forward Guidance, die auf Rahmenbedingungen basierte Erwartungssteuerung, kam auf. Doch als die Bedingungen dann erfüllt waren, zogen nur wenige Zentralbanken die unkonventionellen Massnahmen zurück, oft wurden die Bedingungen dafür schlicht angepasst oder einfach ignoriert. Man wollte nicht riskieren, die ohnehin schwache Erholung der Wirtschaft abzuwürgen. Angesichts von Inflationsraten weit unter den Zielwerten schien Abwarten naheliegend. Die geldpolitischen Tauben hatten die Oberhand, die Falken, die doch eine explodierende Inflation vorhergesagt hatten, gingen in Deckung.
Lehren ziehen
Das alles erschien sinnvoll – zumindest so lange, bis eine neue Krise ausbrechen würde. Immer noch unter dem Eindruck der Finanzkrise fokussierten die Notenbanken auf Finanzmarktstabilität. Dank weitgehenden Veränderungen in Regulierung und Aufsicht wurde das Risiko weiterer Turbulenzen deutlich verringert. Prognosen für Finanz- und makroökonomische Kennzahlen zeigten eine stete Entwicklung an. Dann geschah das Unerwartete: Die Pandemie brach aus. Angesichts eines Wirtschaftseinbruchs historischen Ausmasses blieb den Notenbanken nichts anderes übrig, als den Einsatz ihrer alten und neuen Instrumente – die doch eigentlich schon ausgereizt waren – noch zu verstärken. Jetzt gilt es wieder, daraus Lehren zu ziehen. - Erstens: Unerwartete Schocks ereignen sich nun mal. Selbst wenn wir alle Eventualitäten abschliessend auflisten und abschätzen könnten, wie wahrscheinlich jedes dieser Ereignisse ist, wäre das nutzlos. Solange die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nicht genau null beträgt, wird es mit Sicherheit eintreten – die Frage ist nur, wann: Es kann in tausend Jahren so weit sein oder schon morgen. Notenbanken müssen jederzeit in der Lage sein, mit unerwarteten Schocks fertigzuwerden. Lange Jahre schien es umsichtig und ratsam, ein schlingerndes Boot nicht zusätzlich ins Wanken zu bringen. Was aber, wenn Umsicht gerade das Gegenteil bedeutet: die Einsicht, dass es gefährlich ist, angesichts eines Schocks mit einer aufgeblähten Bilanz und dem Bekenntnis zu auf lange Zeit hinaus niedrigen Zinsen dazustehen.
Zweitens: Die Notenbanken täten gut daran, sich in Demut zu üben. Ein Jahrzehnt lang betrachteten sie es als ihre Aufgabe, Wachstum sicherzustellen, und sie haben dabei gute Arbeit geleistet. Damit jedoch erlaubten sie den Regierungen, sich um ihren Teil der Verantwortung zu drücken. Offiziell bemühte sich die Politik zwar um eine Reduktion der Staatsverschuldung, manchmal erfolgreich, oft nicht. Doch Tatsache ist, dass viele Staaten in vielen der vorangegangenen Jahre gar keinen triftigen Grund gehabt hatten, sich dermassen zu verschulden. Der leichtfertige Umgang mit Staatsschulden wurde zur Gewohnheit und resultierte in einer weit verbreiteten Haltung wohlwollender Nachlässigkeit. In der Fiskalpolitik besteht riesiger Verbesserungsbedarf. Doch solange Notenbanken bereit sind, die Verantwortung für makroökonomische Stabilisierung allein zu tragen, fehlen für Verbesserungen die Anreize.
Drittens: Ausserordentliche Instrumente sind angemessen in ausserordentlichen Zeiten. Nach und nach aber wurden die unkonventionellen geldpolitischen Massnahmen, etwa Niedrigzinsen auf lange Zeit und quantitative Lockerung, zum Standardrepertoire erklärt. Die Notenbanken sind zu Recht stolz auf diese Innovationen. Im Kollaps der Finanzmärkte von 2008 waren die neuen Instrumente von unschätzbarem Wert. Aber waren sie zehn Jahre danach immer noch nötig? Gewiss, sie waren dienlich, aber nicht ohne Tücken. So wurden die Banken mit Geld überflutet, doch die Kreditvergabe zog nur schleppend an, und wenn Unternehmen Kredite aufnehmen, fliesst das Geld nur zu oft in Aktienrückkäufe oder Ausschüttungen an Aktionäre, statt dass neue Produktionskapazität aufgebaut würde. Quantitative Lockerung und Zinsen nahe null entfalten, sobald die akute Krise vorüber ist, nur begrenzt Wirkung.
Viertens: Etwas zu verfechten und es zu analysieren, sind zwei Paar Schuhe. Wie wirksam die Instrumente tatsächlich sind, wird immer noch debattiert. Die Notenbanken haben viele Studien präsentiert, die die Wirksamkeit der unkonventionellen Massnahmen belegen. Von den unabhängigen akademischen Untersuchungen hingegen kommen nur wenige zu diesem Schluss. Immer mehr Analysten erkennen zwar an, die Instrumente hätten gegriffen, es setzt sich aber auch die Einsicht durch, ihre Wirkung sei nun zunehmend ausgereizt. Die Notenbanken hingegen wiederholen gebetsmühlenartig: Wir haben die nötigen Instrumente und sind bereit, sie einzusetzen. Ganz sicher können sie sich da nicht sein. Doch falls sie Zweifel haben, äussern sie sie nicht. Ihre Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.
Anleger müssen Verluste akzeptieren
Das soll nicht heissen, Zinserhöhungen in nächster Zeit seien angezeigt. Zuerst gilt es sicherzustellen, dass die Pandemie gebannt ist und sich die Wirtschaftserholung festigt. Doch die Geldhüter dürfen nicht einfach nur bisherige Ansätze wiederholen, die zunehmend wie ein Fehler aussehen, im Glauben, der nächste Schock sei weit entfernt. Die Erinnerung an das Taper Tantrum von 2013, als der damalige Fed-Chef Ben Bernanke vorsichtig kundtat, die quantitative Lockerung werde irgendwann einmal auslaufen müssen, stimmt immer noch sorgenvoll. Aufgeschreckt durch die Aussicht auf Verluste, reagierten die Aktienmärkte damals heftig. Daraufhin krebste das Fed zurück und brachte auch andere Notenbanken dazu, von der Rückkehr zur Normalität abzusehen. Doch Bernanke hatte recht, die Märkte kümmerten sich bloss um ihr eigenes Wohl. Und da sind wir nun, mit de facto ohnmächtigen Notenbanken.
Die Zentralbanken müssen der Politik klarmachen, dass sie nicht mehr als alleinige Stütze fungieren können – bevor die Regierungen den Fehler von 2010 wiederholen, als sie ihre expansive Politik verfrüht zurückfuhren. Ebenso müssen die Geldhüter die Finanzmärkte auf die Rückkehr zur Normalität vorbereiten: Die Anleger haben enorme Gewinne eingefahren – mit gelegentlichen Verlusten müssen sie leben können. Als Leitsatz empfiehlt sich die Maxime des ehemaligen Fed-Chefs William McChesney, man müsse die Punschbowle wegstellen, wenn die Party in Gang komme. Hier geht es nicht um den Kampf zwischen Tauben und Falken. Es geht darum, bereit zu sein, wenn der nächste Schock kommt. Denn Schocks werden kommen, grosse wie kleine.
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Notenbanken und Zinsen
Die Politik kann sich nicht mehr um die Verantwortung drücken und alles den Zentralbanken überlassen. Die Geldpolitik wiederum muss sich bereithalten für künftige Schocks. Ein Kommentar von Charles Wyplosz.