Ben Bernanke hat die Memoiren seiner Amtszeit als Vorsitzender der US-Notenbank veröffentlicht. Es überrascht nicht, dass er das Buch genau im Herbst 2015 publiziert. Er und sein Verleger dürften von der Prämisse ausgegangen sein, dass das Fed demnächst die erste Zinserhöhung beschliesst und damit den Beginn einer Normalisierung der Geldpolitik signalisiert. Das geht hervor aus einem prahlerischen Leitartikel Bernankes im «Wall Street Journal» mit dem provokanten Titel «Wie das Fed die amerikanische Wirtschaft rettete». Darin lobt er den erwarteten Zinsschritt als wichtigen Meilenstein im Rückgängigmachen der ausserordentlichen Massnahmen, die während seiner Amtszeit als Fed-Vorsitzender ergriffen wurden.
Bernankes Buch trägt den Titel «The Courage to Act: A Memoir of a Crisis and Its Aftermath». Ein angemessenerer Titel wäre gewesen: «Afraid Not to Act», denn es ist nichts Mutiges dabei, Zinsen auf null zu senken, aus dünner Luft virtuelles Geld zu schaffen oder Finanzinstitute wie AIG zu retten und damit mächtigen Interessengruppen zu helfen. Nein, mutig wäre das Gegenteil dessen gewesen, was Bernanke tat. Deshalb wäre sein Buchtitel passender als Beschreibung der Amtszeit von Paul Volcker von 1979 bis 1987. Dieser war willens, unpopulär zu sein und kurzfristig Schmerzen zu verordnen. Damit besiegte er die Inflation in den frühen Achtzigerjahren, was den USA den Genuss von nahezu 30 Jahren milder Disinflation erlaubte, bevor mit der Krise von 2008 eine üble Schuldendeflation einsetzte.
Sinkende Umlaufgeschwindigkeit
Bernankes Buch macht klar, dass er immer noch nicht versteht, dass seine Politik der quantitativen Lockerung (Quantitative Easing, QE) genau das Gegenteil dessen bewirkte, was beabsichtigt war. Sie wirkt nämlich deflationär statt inflationär. Rund um uns sind deflationäre Marktbewegungen sichtbar, zum Beispiel sinkende Rohwarenpreise vor dem Hintergrund des sich abschwächenden Welthandels – und das sieben Jahre nachdem das Fed im Dezember 2008 die Ära der Nullzinsen und quantitativer Lockerung eingeläutet hat.
Der Sinn des andauernden Experiments mit QE, das auf ein immer stärkeres Verwischen des Unterschieds zwischen Fiskal- und Geldpolitik hinausläuft, lag darin, der deflationären Bedrohung entgegenzuwirken. Die jüngsten Marktentwicklungen machen es jedoch immer deutlicher, dass die Zentralbanken – nebst dem Fed auch die Bank of Japan und die Europäische Zentralbank – im Anstreben dieses Ziels keinen Erfolg haben.
Der beste Weg, um darzustellen, dass QE nicht funktioniert, ist die stetige Abnahme der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und das daraus resultierende Fehlen eines Kreditmultiplikators, seit die unorthodoxe Geldpolitik eingeführt wurde. In den USA, Japan und der Eurozone hat die Umlaufgeschwindigkeit – definiert als BIP im Verhältnis zur Geldmenge M2 – seit 2008 abgenommen. In den USA befindet sie sich auf dem niedrigsten Stand seit sechs Jahrzehnten. Deshalb haben sich diejenigen einstweilen getäuscht, die in den vergangenen Jahren einen Teuerungsanstieg vorhersagten, weil das Fed «Geld druckt». Inflation nämlich, wie sie konventionelle Ökonomen eng definieren im Sinn der Konsumentenpreise, wird nicht anspringen, solange der Geldumlauf nicht zunimmt.
Das Ergebnis ist, dass die Zentralbanken zunehmend waghalsige Massnahmen ergreifen, um ein wahrgenommenes Deflationsproblem anzugehen. Dabei verstehen sie nicht, dass gerade ihre Handlungsweise die Deflationsgefahr weiter verstärkt. Das führt zu einer immer weitergehenden Monetisierung von Staatsschulden, was letztlich das Risiko schafft, dass den Zentralbanken die Kontrolle urplötzlich entgleitet und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes abrupt in die Höhe schiesst. Das Resultat wäre nicht Inflation, sondern Hyperinflation. Aus dieser Sicht sollte die Vervielfachung der Notenbankgeldmenge in den vergangenen Jahren als das finanzielle Äquivalent von Zunder betrachtet werden.
Das Land, in dem das monetäre Experiment am extremsten vollzogen wird, ist eindeutig Japan. Die Bank of Japan (BoJ) monetisiert bereits im Wesentlichen das Defizit des Staatshaushalts; sie kauft jährlich Staatsanleihen im Umfang von 80 Billionen Yen, verglichen mit der Nettoemission von 37 Billionen Yen. Trotz – oder vielleicht eben gerade wegen – der QE-Politik bleibt das Umfeld in Japan deflationär.
US-Ökonomen wie Bernanke argumentierten während Jahren, dass die BoJ nach dem Platzen der japanischen Aktien- und Immobilienblase von 1990 eine zu wenig aggressive unorthodoxe Geldpolitik verfolgt hatte. Hätte sie rascher auf ein QE-Programm gesetzt, hätte sie die Deflation schon längst besiegt. Doch diese Einschätzung ist unglaubwürdig geworden, seit es immer augenfälliger wird, dass auch die westlichen Zentralbanken in ihrer selbstgebauten Falle stecken.
Wieso wirken Nullzinsen und QE deflationär? Der erste und wichtigste Punkt ist der, dass die empirischen Belege in Japan seit 1999 und in den USA seit Ende 2008 diesen Befund nahelegen: Der sinkende Trend der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ist Realität. Das überrascht mechanistische Monetaristen wie Bernanke, die zur Fehlannahme neigten, dass die Umlaufgeschwindigkeit stets zu ihrem Mittelwert zurückkehrt.
Vermögenspreis-Inflation
Zudem lassen sich einige theoretische Argumente anführen. Erstens haben unorthodoxe Geldpolitik und Nullzinsen zu einer Vermögenspreisinflation geführt, wie sich an der Performance der Aktien- und der Immobilienmärkte in den vergangenen Jahren ablesen lässt. Die ultralockere Geldpolitik ist damit primär der ohnehin schon wohlhabenden Bevölkerungsschicht zugutegekommen. Doch eine Vermögenspreisinflation führt nicht zu einer allgemeinen Belebung der Wirtschaft, weil die Wohlhabenden nicht ihren ganzen Vermögenszugewinn verbrauchen können. Vielmehr kaufen sie weitere Anlagen auf Kredit hinzu, weil billige Finanzierung gegen die Sicherheit ihrer bestehenden, im Preis gestiegenen Vermögenswerte weiter verfügbar ist. Derweil sehen sich gewöhnliche Sparer um ihre Erträge gebracht.
Zweitens sind Nullzinsen für Unternehmen ein Anreiz, Finanzoptimierung höher zu gewichten als Kapitalinvestitionen; daneben verlängern sie das Überleben nicht wettbewerbsfähiger Betriebe. Am eindrücklichsten zeigt sich der Aspekt des «Financial Engineering» in den USA, wo kreditfinanzierte Aktienrückkaufprogramme massiv zugenommen haben, während die Kapitalinvestitionen laufend enttäuschten.
Ein anderes Merkmal der QE-Politik besteht darin, dass sie sinkende Renditen auf Staatsanleihen bewirkt. Das wiederum führt zu abnehmenden Nettozinsmargen der Banken, wie es sich in Japan seit 2004 und in den USA seit 2010 erweist. Banken mit schrumpfenden Nettozinsmargen sind zurückhaltend in der Kreditvergabe.
Angesichts dieser theoretischen Erklärungen zur deflationären Wirkung von QE und Nullzinsen lautet die entscheidende Frage, wann auch die Konsensmeinung zu diesem Schluss kommen wird, denn das würde zu einem plötzlichen Glaubwürdigkeitsverlust der Notenbanken führen. Auf dieses Schlüsselereignis müssen Anleger achten. Der offensichtlichste Moment, an dem die Finanzmärkte beginnen können, die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken zu hinterfragen, käme dann, wenn das Fed plötzlich entscheiden sollte, seine Politik der Normalisierung umzustossen und erneut ein QE-Programm zu starten, um dem deflationären Effekt des steigenden Dollars entgegenzuwirken. Früher oder später wird dieser Augenblick kommen.
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