Es war der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Russland auf eine Frage nach dessen Entwicklungsstand einst ein «Obervolta mit Raketen» bezeichnete. Damit verortete er Russland als eine Art Afrika in Europa; der westafrikanische Staat heisst heute übrigens Burkina Faso. Mit dem griffigen Vergleich wollte Schmidt vor allem ironisch auf die tiefe Kluft zwischen Russlands bitterer Armut einerseits und dessen (atomarer) Hochrüstung andererseits hinweisen – auf den enormen Gegensatz von Anspruch und Realität. Die damalige Sowjetunion steckte während des Kalten Kriegs nämlich derart grosse Summen in ein modernes Waffenarsenal, dass ihrer Plan- und Kommandowirtschaft daneben kaum noch Geld für anderes blieb.
Aktuelle Zahlen belegen, dass Russland international seit langem weit oberhalb der eigenen wirtschaftlichen Gewichtsklasse boxt. Während das von seinen 145 Mio. Menschen erwirtschaftete Bruttoinlandprodukt weltweit immerhin noch an elfter Stelle liegt (gemäss IWF; vor dem Angriff auf die Ukraine), liegt das Land gemessen am Pro-Kopf-Einkommen auf Platz 68 und liegt damit selbst hinter Staaten wie Rumänien. Russland ist kein wirklich entwickeltes Industrieland, sondern ein hoch gerüstetes Schwellenland mit Atomwaffen, just wie Schmidt vor 40 Jahren die Sowjetunion darstellte. In der Liste der Staaten mit den höchsten Rüstungsausgaben rangiert es entsprechend hinter den klar dominanten USA sowie China und Indien auf Platz vier.
Drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion und zwei nach Putins Machtantritt ist die Bilanz zutiefst ernüchternd – und die Parallele zu Afrika offenkundig. Wie fast überall auf dem afrikanischen Kontinent ist auch die russische Wirtschaft schwach und wenig innovativ; wie in so vielen Staaten Afrikas, das insgesamt nie zur Werkbank der Weltwirtschaft werden konnte, wird auch in Russland so gut wie nichts herstellt, was die Welt gebrauchen könnte (abgesehen von Waffen). Wie Afrika hat es sich als reiner Rohstoff- und Nahrungsmittellieferant in die globale Arbeitsteilung eingereiht und sich damit einer Wirtschaftsweise verschrieben, die fast nur auf der Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen fusst. Gleichzeitig muss fast seine gesamte Technologie teuer importiert werden. Der Politikprofessor Philip Manow von der Universität Bremen hat Russland deshalb auch als die «Tankstelle» der Weltwirtschaft mit einem vorgelagerten «Bistrobereich» beschrieben, was in vieler Hinsicht auch auf den insgesamt noch weniger entwickelten Agrar- und Rohstoffkontinent Afrika zutrifft.
Geteilte Vorliebe für «big men»
In diesem System der kaum erkennbaren Produktivitätsfortschritte wird der Gewinn nicht reinvestiert, sondern ausgeschüttet, sprich: oft aus dem jeweiligen Land auf ausländische Bankkonten transferiert oder offen sichtbar konsumiert (etwa in Form von Privatjets, Yachten, teuren Anwesen, Fussballklubs usf.), was dann, wie auch in Südafrika oder Nigeria, mit krasser sozialer Ungleichheit einhergeht.
Das afrikanische und das russische Modell ähneln sich mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Es gibt kaum eine eigene, verarbeitende Industrie – und wenn doch, dann auf einfachstem technologischen Niveau und hauptsächlich zur Versorgung der eigenen Bevölkerung mit ein paar essenziellen Konsumartikeln. Schliesslich teilen viele Staaten Afrikas und Russland politisch auch den Autoritarismus, die Neigung zur Macho-Führung von sogenannten «big men». In Afrika hat sich diese Tendenz nur deshalb nicht militärisch-aggressiv nach aussen gewendet, weil die Kolonialgrenzen zur Zeit der Gründung der Organisation für afrikanische Einheit 1963 als sakrosankt festgeschrieben wurden; das wurde, abgesehen von der Abspaltung Eritreas von Äthiopien und des Südsudans von Sudan auch respektiert.
Dass Russland sich seit langem in eine wenig gute Richtung entwickelt, hat viele Gründe: In den 1990er Jahren, in der Phase brutaler und oft regelloser Transformation, wurde der bequeme Pfad der schnellen Ausbeutung des Ressourcenreichtums eingeschlagen. Das war zu der Zeit, als China mit Blick auf die Öffnung des Welthandels einen ganz anderen, mühseligeren Entwicklungspfad wählte. Das traditionell einzige Industrieland südlich der Sahara, Südafrika, wählte die bequeme, aber wenig nachhaltige Lösung des «black empowerment»: Rassenquoten. Hautfarbe und Loyalität gegenüber der Regierung stechen in der Regel die Kriterien Kompetenz und Verdienst aus. So kann kein Mehrwert entstehen. Auch hier gibt es Ähnlichkeiten zu Russland.
Waffen und Weizen
Insofern trifft Moskaus Aussenpolitik in Afrika auf vertrautes, fruchtbares Terrain. Seit dem Kollaps der Sowjetunion konzentriert sich Russland auf ein knappes Dutzend der 54 afrikanischen Staaten. Im internationalen Konkurrenzkampf auf dem Kontinent ist Russland ein Winzling, konstatiert Professor Gerrit Olivier, ab 1992 Südafrikas erster Botschafter in Russland. Während China in den vergangenen Jahrzehnten für Afrika zu einem grossen Handels- und Investitionspartner herangewachsen ist, hat Russland nur einigen von Konflikten geplagten Staaten etwas zu bieten. Russlands Präsenz und Rolle in Afrika sei jetzt und wohl auch zukünftig zu unbedeutend, um grösseren Einfluss zu gewinnen, glaubt Olivier.
Dies liege auch daran, dass Russland in Afrika fast nur Konflikte statt Entwicklung und Frieden fördere. Wie im eigenen eurasischen Umfeld stützt es auch dort oft Diktatoren gegen die einheimische Opposition und Zivilgesellschaft. Russlands Handel mit Afrika beschränkt sich weitgehend auf Waffen und Dienstleistungen von Militärberatern sowie auf den Verkauf von Weizen.
John Bolton, unter Donald Trump Sicherheitsberater im Weissen Haus, hat Russlands militärisches Engagement in Afrika als eine «ausbeuterische Praxis» beschrieben, die wie im Fall von Angola, Südafrika oder Zimbabwe oft auf Allianzen aus dem Kalten Krieg beruht – Waffenlieferungen als Gegenleistung für Afrikas Unterstützung in der Uno, verbunden mit dem Versuch, autoritäre Führer an der Macht zu halten und darüber fast jede nachhaltige Entwicklung zu untergraben. Russland unterstützt vor allem Regime, die in Bedrängnis geraten oder wie in der Zentralafrikanischen Republik, dem Sudan, Mali oder Madagaskar international isoliert sind. Auch sind Moskaus militärische Kooperationsabkommen oft kaum mehr als gelegentliche Ausbildungskurse für die jeweiligen Streitkräfte.
Im Handel vernachlässigbar
Russlands Intervenieren in Afrika hat eine lange Tradition. Freiwillige kämpften im Burenkrieg von 1899 bis 1902 gegen die Briten. Während des Kalten Kriegs unterstützte Moskau marxistisch-leninistisch inspirierte Widerstandsbewegungen auf dem ganzen Kontinent. Mit dem Kollaps des Kommunismus verlor Afrika für den Kreml stark an Bedeutung, doch in den vergangenen zehn Jahren hat er einen frischen Blick auf Afrika geworfen. Seit 2015 hat Russland über 20 bilaterale militärische Kooperationsabkommen mit afrikanischen Staaten geschlossen. Im Handel stehen Waffen- und Sicherheit stets ganz obenan. Mit einem Anteil von 35% ist Russland inzwischen zum grössten Waffenlieferanten Afrikas aufgestiegen. Russische Waffen sind für Afrika attraktiv, weil sie billiger sind als amerikanische. Auch haben in den vergangenen fünf Jahren rund 2500 Militärangehörige aus Afrika eine russische Militärakademie besucht.
Im Gegensatz dazu ist Russlands nichtmilitärischer Handel mit Afrika nur leicht gestiegen, und er ist im Vergleich zum Volumen Chinas marginal. Der Austausch mit Russland macht nur rund 2% des afrikanischen Handels mit Ländern ausserhalb des eigenen Kontinents aus; das Handelsvolumen mit Europa und China ist mehr als zehnmal grösser. 2018 betrug der Gesamtumfang des russischen Handels mit Schwarzafrika ganze 5 Mrd. $, weniger als der Handel mit der Türkei, Singapur oder Thailand. Trotz grandios arrangierter Gipfeltreffen bleibt Russland kommerziell ein Nischenakteur.
Neben den Lieferungen von Kampfjets, Panzern und Kalaschnikows schätzen Afrikas Diktatoren die privaten russischen Söldnerheere (namentlich etwa die Wagner-Truppe), die mit Kampfeinsätzen und teils auch direkter politischer Einmischung, etwa mit Beihilfe zu getürkten Wahlen, dubiosen Herrschern das Amt sichern helfen. Bezahlt werden sie dafür oft mit lukrativen Schürf- und Förderrechten oder mit Staatsaufträgen für russische Konzerne.
Putin-Freunde in Nöten
Ein näherer Blick auf die Einsätze enthüllt jedoch die Grenzen von Russlands Macht in Afrika. In Madagaskar oder der Demokratischen Republik Kongo konnte sich der von Moskau favorisierte Kandidat nicht durchsetzen. Der Versuch, den sudanesischen Langzeitdiktator Omar al-Baschir im Amt zu halten, schlug ebenso fehl wie ein geheim ausgehandelter Deal, Atomkraftwerke an Südafrika zu liefern. Aus Moçambique zogen sich russische Söldner nach erfolglosem Kampf gegen die Islamisten im Norden zurück.
Das Bild von Russlands vermeintlicher Neuentdeckung Afrikas bleibt deshalb sehr gemischt: Seit Jahren haben Afrikas Autokraten engere Beziehungen zu Wladimir Putin und Russland gesucht und geknüpft, denn während Amerika seit Ende des Kalten Kriegs verstärkt auf die Einhaltung der Menschenrechte pocht, ist das Putin und seinem Klüngel egal. Vielmehr drängt er Afrikas Potentaten dazu, Härte zu zeigen – besonders gegenüber der Opposition im eigenen Land. Als Putin 2015 erstmals nach zehn Jahren wieder Afrika besuchte, schenkte er dem ägyptischen Staatschef Sisi eine Kalaschnikow. Nun aber stehen just die Autokraten, die die Nähe zu Moskaus Machthaber suchten, wegen Putins Angriffskrieg in Osteuropa und dessen verheerenden Folgen vor dem Ausbruch von Hungersnöten und vor noch höheren Schulden – und immer öfter auch vor wütenden Bürgern.
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«Obervolta mit Raketen» – immer noch
Russland ähnelt Afrika: Konzentration einer schwachen Wirtschaft auf Rohstoffe und Nahrungsmittel, unter autoritärer Führung. Ein Kommentar von Wolfgang Drechsler.