Die Schweiz gilt im Ausland nach wie vor als Land, das hauptsächlich von Käse, Schokolade, Uhren und unversteuerten Vermögen lebt. In Kriminalfilmen taucht immer wieder mal ein Schurke auf, der ein Nummernkonto in Genf oder Zürich hat.
Die Idee, dass die niedlichen Schweizer in der Lage wären, etwas anderes als touristisch verwertbare Konsumgüter herzustellen, scheint für viele schlicht unvorstellbar.
Dieses Bild der Schweiz war schon immer falsch. Im 19. Jahrhundert waren Produkte der Textilindustrie mit Abstand das wichtigste Exportgut, im 20. Jahrhundert dominierte die Metall-, Maschinen- und Elektroindustrie (Mem).
Die Vermögensverwaltung brachte einzelnen Banken zwar einen guten Ertrag, war volkswirtschaftlich jedoch nie bedeutend. Der Wohlstand der Schweiz war immer viel breiter abgestützt.
Heute ist das gängige Bild erst recht irreführend. Das Bank- und Steuergeheimnis für ausländische Kunden ist abgeschafft. Der letzte grosse Aufschwung der Käsereien fand zu Zeiten von Jeremias Gotthelf statt.
Die Zahl der Schokoladefabriken war vor hundert Jahren viel grösser als heute. Neuerdings geben Inländer mehr für Reisen ins Ausland aus, als sie mit ausländischen Besuchern verdienen. Früher resultierte immer ein Überschuss.
Nur die Uhrenindustrie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle. Aber mit einem Anteil von 10% an den gesamten Industrieexporten ist sie nicht die dominante Branche – es ist vielmehr die chemisch-pharmazeutische Industrie, die zum Markenzeichen des Landes geworden ist.
2016 machten ihre Ausfuhren 45% der gesamten Industrieexporte aus. 1990 waren es noch rund 20% gewesen.
Globalisierung fördert Spezialisierung
Genauer betrachtet ist es die Pharmaindustrie, die in den vergangenen Jahrzehnten stetig an Bedeutung gewonnen hat. Von den gesamten chemisch-pharmazeutischen Exporten gehen nur noch 15% auf das Konto der chemischen Industrie – vor zehn Jahren machten sie etwa ein Viertel aus.
Mit anderen Worten: Nicht nur im gesamten Industriesektor, sondern auch innerhalb der Branchen hat ein rasanter Strukturwandel stattgefunden. Die Schweiz wird immer mehr zum Pharmaland.
Dieser Konzentrationsprozess kommt nicht überraschend. Mit fortschreitender Globalisierung sind die verschiedenen Industriestandorte gezwungen, sich auf ihre Stärken zu spezialisieren. Nur wer in seinem Segment einen grossen Marktanteil hat, kann überleben.
Aus ökonomischer Sicht ist dies begrüssenswert, denn der Ausbau der Branchen mit hoher Wertschöpfung hebt die allgemeine Wohlfahrt, nicht nur im eigenen Land, sondern überall – nur profitable Unternehmen können Preissenkungen an die Kunden weitergeben, ohne unterzugehen.
Der Aufstieg der Pharmaindustrie ist auch aus historischen Gründen nicht überraschend. Die «Basler Chemie» existiert seit mehr als 150 Jahren und gehörte immer zu den Branchen mit hoher Wertschöpfung. 1859 begann der erste Betrieb mit der Produktion von künstlichen Farbstoffen für die Seidenindustrie.
Das erste Basler Unternehmen, das in den 1880er Jahren in die Pharmaproduktion einstieg, war die Gesellschaft für chemische Industrie in Basel (Ciba). 1896 wurde F. Hoffmann-La Roche gegründet, die sich von Beginn weg auf das Pharmageschäft konzentrierte.
Das Erfolgsrezept bestand darin, dass die «Basler Chemie» schon früh mit dem Aufbau von Industrielaboratorien begann und gute Chemiker rekrutierte. Dadurch sicherte sie sich einen kontinuierlichen Innovationsprozess und konnte sich auf die Entwicklung von Nischenprodukten konzentrieren, bei der die Transport- und die Rohstoffkosten zweitrangig waren.
Von entscheidender Bedeutung war von Beginn weg das Eidgenössische Polytechnikum (seit 1911 ETH). Die Universität Basel war zunächst eher zurückhaltend gegenüber den Interessen der «Basler Chemie».
Dies änderte sich grundlegend, als Behörden- und Industrievertreter in den Sechzigerjahren das Biozentrum in Basel gründeten. Der grosse Strukturwandel von der alten Chemie zu den Life Sciences wäre wohl schwieriger gewesen ohne diese Lehr- und Forschungsstätte von internationalem Ruf.
Der Erfolg der Pharmaindustrie wird andauern, wenn dem Management nicht allzu gravierende Fehler unterlaufen. Denn der globale Gesundheitsmarkt wird aller Voraussicht nach weiterhin kräftig expandieren.
Die Schweiz kann sich glücklich schätzen, eine so starke Exportindustrie zu besitzen, die gut bezahlte, mehrheitlich interessante Arbeitsplätze anbietet. Der Anteil der Pharmaexporte an den Gesamtexporten wird deshalb in absehbarer Zeit 50% überschreiten.
Die starke Verschiebung der Gewichte innerhalb der Exportindustrie macht sich nicht nur in der Statistik bemerkbar, sondern hat fast überall grosse Veränderungen ausgelöst.
Aus ökonomischer Sicht ist die Veränderung der schweizerischen Handelsbilanz die vielleicht grösste. Seit 1848 war sie immer stark negativ, abgesehen von einem Jahr in der Ausnahmesituation des Ersten Weltkrieges.
Seit 2002 ist sie konstant positiv. Selbst im Gefolge des doppelten Frankenschocks von 2011 und 2015 resultierte ein Überschuss, weil die Pharmaexporte weniger wechselkursabhängig sind als die anderen Schweizer Exportbranchen. Dies hat Auswirkungen auf die künftige Geld- und Währungspolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB).
Auch politisch sind die Folgen unübersehbar. Der relative Abstieg der Mem-Industrie, die regional breit verteilt ist, und der furiose Aufstieg der Pharmaindustrie, die in der Region Basel konzentriert ist, führen dazu, dass immer weniger Menschen direkt mit dem gewerblichen Sektor verbunden sind.
Während früher auch in den Städten in jedem Hinterhof gehämmert, geschweisst oder genäht wurde, wird die industrielle Kultur für viele immer exotischer. Die Anliegen und Sorgen dieser Exportbranche werden es deshalb zunehmend schwer haben, in der Bevölkerung Gehör zu finden.
Basel ist in Bern untervertreten
Das politische Gewicht der Exportindustrie wird auch deshalb abnehmen, weil die Basler Halbkantone auf eidgenössischer Ebene schwach vertreten sind. Zusammen stellen sie nur zwölf Nationalräte, Zürich hat 35 und Bern 25.
Der letzte Basler Bundesrat war Hans-Peter Tschudi, der von 1960 bis 1973 dem Innendepartement vorstand, und es sieht nicht danach aus, dass die Basler bald zum Zug kommen. Wenn die Anliegen der Pharmaindustrie zunehmend nur noch als Regionalinteressen wahrgenommen werden, wird es prekär.
Dies wurde bei der Unternehmenssteuerreform (USR) III erstmals deutlich sichtbar. Die Patentbox war auf die Interessen der Pharmaindustrie zugeschnitten, aber viele Menschen sahen nicht ein, warum eine eidgenössische Vorlage eine solche Spezialität enthalten musste, unter der sie sich nicht viel vorstellen konnten.
Selbst Basel-Stadt lehnte die Vorlage mit 57,5% ab. Aber wenn die Pharmaindustrie gleichmässig über das ganze Land verteilt wäre, hätte im Vorfeld der Abstimmung mit Sicherheit eine andere Diskussion stattgefunden.
In Basel rühmen zwar viele die einvernehmliche Zusammenarbeit zwischen der Industrie und dem von der Linken dominierten Regierungsrat. Aber innerhalb der Linken ist der Kurs der pragmatischen Exekutivmitglieder keineswegs gesichert.
Die Verständigung zwischen Industrie und Politik wird weiter dadurch erschwert, dass die Basler Pharmagesellschaften vollständig internationalisiert sind.
Die Einheimischen sorgen für gute Infrastruktur und Rahmenbedingungen, damit die von internationalen Spitzenkräften und Aktionären dominierten Unternehmen in den Standort investieren.
In guten Zeiten scheint diese Arbeitsteilung zu funktionieren – ob sie ein Zukunftsmodell ist, wird sich zeigen. Ökonomisch ist das Pharmaland Schweiz längst Tatsache, politisch ist noch vieles ungeklärt.
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Pharmaland Schweiz
Die Schweiz profitiert als Pharmastandort enorm von der Exportbranche. Die Verständigung zwischen diesem wichtigen Wirtschaftszweig und der Politik muss besser werden, schreibt Tobias Straumann.