Riesiger Bedarf an Arbeitsplätzen – Direktinvestitionen können sich lohnen – Kulturelle Barrieren
«Go East, young man» – heutzutage kein schlechter Rat, besonders für den europäischen Ingenieur-Nachwuchs.
«Go East, young man» – heutzutage kein schlechter Rat, besonders für den europäischen Ingenieur-Nachwuchs. Zwar gibt es Stimmen, die vor China-Euphorie warnen, doch Tatsache ist: Die chinesische Wirtschaft wächst rasant (dieses Jahr voraussichtlich über 8%), und der Boom dürfte, ja muss weitergehen, denn die 1,3 Milliarden Einwohner dieses weitläufigen Reiches brauchen dringend Arbeit: Die überwältigende Mehrheit der Chinesen ist arm, will es aber nicht bleiben. - Westler sollen sich von den Wolkenkratzern und Leuchtreklamen in Schanghai oder Peking nicht täuschen lassen, sagte Bruce Murray, Landesvertreter der Asiatischen Entwicklungsbank, Ende März an einem Anlass von ABB in Peking. Ein Augenschein bestätigt folgende Faustregel: Rund eine Stunde Autofahrt landeinwärts des prosperierenden Gürtels, der sich von der Metropole der Küste entlang über Schanghai bis etwa nach Hongkong/Guangdong erstreckt, beginnt die Dritte Welt. Die Gegensätze zwischen Retortenstädten wie Shenzhen und der rückständigen Landwirtschaft – der Bauer, der mit seinem Ochsen pflügt, ist kein Klischee, sondern augenfälliger Alltag – sind gesellschaftlicher Sprengstoff ohnegleichen, der sich nur über stetes, hohes Wachstum entschärfen lässt. Mehr als 100 Millionen Menschen reisen unablässig durchs Land, auf der Suche nach Tiefstlohnjobs. Dieses Heer von Wanderarbeitern wäre noch viel grösser, würden alle staatlichen Betriebe strikt nach betriebswirtschaftlichen Kriterien geführt. Zudem werden die Überkapazitäten der chinesischen Landwirtschaft auf 150 Millionen Personen geschätzt. - Die Kommunistische Partei hält zwar an ihrem Machtmonopol fest, weiss jedoch, dass nur ein wachsender privater Sektor die Jahr für Jahr erforderlichen 15 bis 20 Millionen neuen Arbeitsplätze schaffen kann. Markt statt Marx bzw. Mao, Tendenz zunehmend. Als Europäer bleibt einem, nebenbei bemerkt, nur die schwache Hoffnung, die hiesigen Sozialisten (aller Parteien!) kämen alsbald zu dieser vergleichsweise banalen Erkenntnis. - Noch vor einem Vierteljahrhundert gab es in China keinen privaten Sektor. Heute steht die Privatwirtschaft mit ihren 1,64 Millionen registrierten Gesellschaften für 60% des Bruttoinlandprodukts, und sie beschäftigt in den Städten jede zweite Arbeitskraft. Gelingt es China, plangemäss bis 2020 jährlich ein Realwachstum von durchschnittlich 7,2% zu erreichen, würde sich das BIP pro Kopf auf 3000$ verdreifachen – erst so viel, wie Malaysia heute schon ausweist. - China ist das bedeutendste Zielland für ausländische Direktinvestitionen (54 Mrd.$ 2003), die grösstenteils in den erwähnten Ost-Streifen fliessen. Oft wird die Frage gestellt: Lohnt sich das überhaupt, lässt sich in China wirklich Geld verdienen - Eine Umfrage von McKinsey vom vergangenen Jahr zeigt, dass 90% der Multis, die in China zusammen mit Partnern Unternehmen betreiben, diese Gesellschaften für wenigstens gleich profitabel halten wie Joint ventures in anderen Schwellenländern; zwei Drittel der China-Allianzen hätten ihre Ziele erreicht. - Die US-Handelskammer in Schanghai kommt zu einem ähnlichen Befund: 2002 bezeichneten sich 65% ihrer Mitgliedunternehmen als profitabel, 10% als sehr profitabel und 22% als nahe der Gewinnschwelle. Zudem stellt die Kammer fest, dass sich die Margensituation in China aktiver amerikanischer Gesellschaften erheblich verbessert hat: 1999 bezeichneten 58% der befragten Unternehmen ihre Gewinnspanne als unterdurchschnittlich gemessen an anderen Standorten, 2002 waren es noch 33%. - Dennoch garantiert ein China-Engagement keineswegs schnelles Geld. Die lokale Konkurrenz ist zuweilen hart und nicht selten unfair. Wer gigantische Abnehmermassen vor Augen hat, muss unter Umständen teuer lernen, dass es innerhalb des Landes, von Provinz zu Provinz, erhebliche Handelshemmnisse gibt. Das Kernproblem ist jedoch ein kulturelles. Rechtsstaatlichkeit im europäischen (oder, eingedenk der Abartigkeiten, selbst im amerikanischen) Sinn ist China fremd. Mächtige Einzelpersonen bestimmen das Spiel, nicht vorfixierte Regeln. Und diese Menschen sind nur mühsam in Bewegung zu setzen. Bruce Murray sagt es so: «If the great invention of European civilization was the legal system, China’s was bureaucracy.»MR