Wo immer Staaten hohe Steuern einnehmen, sind die betreffenden Länder auch reicher. Wer die Wirtschaftsleistung eines Landes mit den Steuereinnahmen des Staates (als Anteil am Bruttoinlandprodukt BIP) korreliert, findet einen ausgeprägten positiven Zusammenhang. Die Daten widerlegen eindrucksvoll das gern und immer wieder (vor allem von stark konservativen Politikern wie Vertretern der republikanischen Tea Party) vorgebrachte Argument, dass höhere Steuern Anreize zerstören und in den wirtschaftlichen Ruin führen. Die tieferen Gründe dafür sind wichtig. Sie können auch zu einem guten Teil erklären, warum die Eurokrise vor allem die südeuropäischen Länder hart getroffen hat – und warum Griechenland vermutlich nicht zu retten sein wird.
Ist der Zusammenhang von Steuereinnahmen und Wirtschaftsleistung eine statistische Chimäre? Oder sind höhere Steuern wirklich gut für die Wirtschaftsleistung? Es ist nicht absurd anzunehmen, dass reichere Bürger sich gern «mehr Staat leisten»; wer nicht genug zu essen hat, dem sind öffentliche Schulen, würdige Vertretung im Ausland und effektive Gerichte nicht so wichtig. Doch es gibt einen guten Grund, warum der Zusammenhang vermutlich kausal ist. Höhere Steuern fallen nicht vom Himmel; Staaten müssen in ihre Finanzverwaltung investieren, Informationen generieren und auswerten, Zahlungen durchsetzen und schliesslich für eine Kultur sorgen, in der hohe Steuermoral selbstverständlich ist – erst dann gelingt es auch, in erheblichem Umfang Einnahmen zu generieren.
«Kriegskind» Steuern
All dies braucht Zeit, Anstrengungen, Geld – und in normalen Zeiten bemühen sich viele Länder nur begrenzt, in die Finanzinfrastruktur zu investieren. Dies ist in Krisenzeiten anders. Vor allem die Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts haben einen enormen Beitrag geleistet, um die Steuerverwaltung und die Steuerstruktur fortzuentwickeln. Da ab 1800 Geld mitentscheidend für den Erfolg auf dem Schlachtfeld war, investierten Staaten in immer höherem Umfang in Informationsbeschaffung. Sie schafften Steuerprivilegien ab und führten neue Steuern ein, wie etwa die Einkommenssteuer. Einmal geschaffen und eingeführt, bleiben Finanzverwaltung und Steuern auf Dauer in Kraft – so wie die deutsche Schaumweinsteuer, die 1902 zur Finanzierung der kaiserlichen Flotte eingeführt wurde und heute immer noch erhoben wird.
Genau dieser Zusammenhang zwischen kriegerischem Konflikt in der Vergangenheit und Steuerinfrastruktur löst das Henne-Ei-Problem bei der Wechselwirkung von Steuer und Wirtschaftsleistung – ein guter Teil der Steuereinnahmenhöhe heute ist durch die Anzahl der Kriege erklärlich, die ein Land in der Vergangenheit geführt hat. Einmal geschaffen, sprudeln die Finanzquellen weiter, und der Ertrag wird für Strassen und Schulen, für Polizei und Gerichte verwendet. Und genau dieser Teil der Variation bei den Steuern erklärt die Wirtschaftsleistung besonders gut.
Warum aber sind hohe Steuern gut? Zum einen sorgen sie für eine schlagkräftige Infrastruktur, die erst die hohe Produktivität des Privatsektors ermöglicht. Zweitens erfordert ihre Erhebung gute Informationen, und diese können dann zur Grundlage für private Transaktionen werden. Beispiel Hauskauf – nur weil der Staat ein Grundbuch führt, ist klar, wem die Immobilie gehört. Dadurch werden Hypotheken erst möglich. Dito die Einkommenssteuer, die Privat- und andere Kredite ermöglicht. Drittens sorgt nur eine einigermassen gleichmässige Durchsetzung des geltenden Steuerrechts für hohe Einnahmen – wo die Dunkelziffer hoch ist, kann das Gesamtvolumen nicht erheblich sein.
Was hat dies mit der jüngsten Eurokrise zu tun? Während viele Beobachter von einer Schuldenkrise sprechen, sind objektiv die Schuldenberge aller südeuropäischen Länder nicht sonderlich hoch. Selbst Griechenland vor dem letzten Schuldenschnitt kam auf nur 180% des Bruttoinlandprodukts – weniger als das kleine und relativ arme Grossbritannien, das 1820 auf eine Schuldenquote von über 220% des Bruttoinlandprodukts kam. Warum sind in einem Falle die Schulden kaum zu finanzieren, wenn sie im anderen Falle mit einer rapiden wirtschaftlichen Entwicklung einhergingen und schnell abgetragen wurden?
Griechenlands schwache Infrastruktur
Entscheidend sind Unterschiede in der «State Capacity», in der Fähigkeit des Staates, Gesetze durchzusetzen, Steuern zu generieren und effektiv zu agieren. In Griechenland heute sind nicht die Schulden zu hoch oder die Zinsen; es fehlt an einer effektiven Umsetzung der Steuergesetze. Warum? Weil die Infrastruktur des Staates nicht derjenigen eines normalen, entwickelten Landes entspricht. So gibt es keine Grundbücher, weshalb Grundbesitz häufig strittig ist, was Investitionen erschwert und Grundbesitz nur schwer besteuerbar macht. Nach einer jüngst von der Universität Chicago erstellten Untersuchung bekommen Ärzte und Anwälte in Griechenland regelmässig Kredite für Autos oder Häuser, deren monatliche Kosten die gesamten deklarierten Einkünfte des Kreditnehmers übersteigen. Das legt – milde gesagt – nahe, dass die Bank und der Kreditnehmer wissen, dass da noch ein paar Einkünfte fehlen, und zwar mindestens das Drei- bis Fünffache. Doch es sind nicht nur die Selbständigen, die nicht zahlen; Oligarchen wie etwa Schiffsreeder gehören auch dazu. Griechische Steuerinspekteure müssen um ihr Leben fürchten, wenn sie aggressiv Nichtzahler verfolgen; neue Steuern wie die auf Schwimmbecken im Garten sind Verzweiflungstaten, die an frühmoderne Experimente wie die Fenstersteuer erinnern. In Italien, Spanien, und Portugal ist die Lage nur leicht besser.
Darunter leidet auch die wirtschaftliche Effizienz. Wo viele Unternehmen und Bürger nicht zahlen, müssen andere mehr beisteuern; vor allem grosse, effiziente Unternehmen und hochbezahlte Angestellte zahlen die Zeche, während viele kleine, ineffiziente Unternehmen dem Steuernetz entkommen. Die letzte Erhöhung der Umsatzsteuer in Spanien rechtfertigte Finanzminister Cristóbal Montoro mit dem denkenswerten Hinweis, dass nur so diejenigen zu einem Beitrag gezwungen werden könnten, die Einkommenssteuer hinterziehen. So hängt man überall in Lateineuropa Leistungsträgern und den guten Unternehmen Bleigewichte um den Hals und subventioniert die ineffizienten Unternehmen – und die Produktivität insgesamt leidet.
Bereitschaft der Bürger entscheiden d
Lässt sich das Problem mangelnder Staatsmacht lösen? Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte stimmt nicht optimistisch. Einen kleinen Krieg zwecks Aufpäppelung der Steuerbehörden kann man den Südeuropäern nicht empfehlen, und ohne eine nationale Kraftanstrengung, in der alle Bürger sich darauf einigen, Informationen zu teilen und ihre Steuerrechnungen zu zahlen, wird die Krise weiterschwelen.
Letztlich ist die wichtigste Investition für einen funktionierenden Staat nicht ein Gesetz hier oder eine Behörde dort, sondern die «Software» in den Köpfen der Bürger – die unbedingte Bereitschaft, die Legitimität der Steuerbehörden anzuerkennen und seinen Obolus zu entrichten. Deshalb führt auch die Politik der neuen griechischen Regierung, die die Legitimität der Rettungspakete ablehnt und Griechenland als Opfer der Troika darstellt, in den Abgrund. Seit Januar kollabieren die Steuereinnahmen, weil die griechische Bevölkerung den Glauben an die Angemessenheit und die soziale Durchsetzbarkeit von Steuern jedweder Art unter einer Syriza-Regierung verloren hat.
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Staatskrise – nicht Schuldenkrise
Die Ursache für die Schwierigkeiten in Südeuropa sind nicht in erster Linie zu hohe Schulden oder Zinsen, sondern die Unfähigkeit des Staates, das Steuerrecht wirkungsvoll umzusetzen. Ein Kommentar von Joachim Voth.