Wenige Jahre bevor die grossen Babyboomer-Generationen in Pension gehen, haben Bundesrat und Parlament eine neue Sozialversicherung geschaffen: die Überbrückungsrente für ältere, ausgesteuerte Arbeitslose vor der Pensionierung. Gezeugt wurde die Überbrückungsleistung (ÜLG) im Hinterzimmer des Bundeshauses unter der Führung der Gewerkschaften, der Gegner der Begrenzungsinitiative der SVP und Bundesrätin Karin Keller-Suter. Angesichts der Befürchtung, die SVP-Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU könnte angenommen werden, und mit dem Ziel, die Gewerkschaften zu gewinnen, wurde die ÜLG im Mai letzten Jahres aus dem Boden gestampft.
Bereits im Oktober kam die Botschaft ins Parlament, mit der Idee, das Gesetz noch vor der Volksabstimmung über die Initiative zu verabschieden. Der Coup ist gelungen, das Parlament hat die Vorlage vor dem Abstimmungsdatum (27. September) bereinigt. Noch nie wurde eine neue Sozialversicherung im Schnellschuss, mit dem Verweis auf einen hängigen Entscheid des Souveräns, binnen nur eines Jahres unter Dach und Fach gebracht.
System wird umgekrempelt
Mit dieser neuen Rente wird das System der sozialen Sicherung in der Schweiz umgekrempelt. Heute sorgt das Dreisäulensystem mit den Ergänzungsleistungen (EL) für die Altersrenten. Ihre Finanzierung basiert vornehmlich auf Beiträgen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. AHV und EL benötigen aber immer mehr öffentliche Gelder. Darüber hinaus wird das Sicherungsnetz mit der Fürsorge verfeinert. In der Arbeitslosenversicherung wird der Lohnersatz einzig und allein mit den Beiträgen der Sozialpartner finanziert. Diese Finanzierungsgrundsätze werden mit dem ÜLG durchbrochen. Der Bund übernimmt sämtliche Kosten dieser neuen Sozialversicherung.
Das ÜLG stützt sich auf Artikel 114, Absatz 5 der Bundesverfassung. Er begründet die Arbeitslosenversicherung, und hält fest, dass der Bund «Vorschriften über die Arbeitslosenfürsorge erlassen kann». Aus diesen «Vorschriften» ist nun ein neues Sozialversicherungsgesetz entstanden. Eine grosszügige Auslegung der Verfassung, denn im folgenden Artikel 115 wird festgehalten, dass «Bedürftige von ihrem Wohnkanton unterstützt werden».
Der Bund greift in ein Hoheitsgebiet der Kantone und Gemeinden ein, Sozialhilfe ist ihre Sache. Warum hat der Gesetzgeber nicht nach einer Lösung im Arbeitslosenversicherungsgesetz gesucht? Die Übernahme der Kosten durch den Bund freut die Kantone, damit entfallen ihnen Kosten für die Sozialhilfe. Bezahlen müssen Unternehmen und diejenigen Bürger, die direkte Bundessteuer bezahlen.
Zwar hat der Ständerat die Leistungen für ausgesteuerte Arbeitslose von ursprünglich 58 350 Fr. für Alleinstehende und 87 525 Fr. für Ehepaare in Anlehnung an die Ergänzungsleistungen auf 43 763 bzw. 65 644 Fr. gekürzt und den Beginn der Leistungen auf das Alter 60 statt 58 festgelegt. In der Botschaft wird mit jährlichen Kosten zwischen 200 und 300 Mio. Fr. gerechnet. Mit der Kompromisslösung geht Bundesrat Alain Berset noch von 150 Mio. Fr. aus. Diese Zahlen sind aber eher optimistisch, heisst es doch auch in der Botschaft, dass sich diese Grössen je nach Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsmarktsituation ändern können.
In der Tat: Bundesrat und Parlament haben offenbar die jüngsten Schätzungen des Bundesamtes für Statistik (BfS) zur Bevölkerungs- und Erwerbstätigenentwicklung (noch) nicht zur Kenntnis genommen. Wegen der Babyboomer-Jahrgänge werden zwischen 2021 und 2035 pro Jahr über 40 000 Personen mit 65 in Pension gehen. Gemäss Referenzszenario des BfS vom Mai steigt die Zahl der über 65-Jährigen von heute 1,5 auf 2,1 Mio. 2030, auf 2,5 Mio. 2040 und auf 2,6 Mio. 2050. Damit erhöht sich ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von heute 19 auf 26%. Dazu gesellen sich kurzfristig die wirtschaftlichen und noch kaum abschätzbaren Folgen der Coronakrise, Rezession und Verschuldung.
Die Schätzungen des Bundesrats, dass im Maximum einmal 4600 Personen eine Überbrückungsrenten beziehen werden, dürften angesichts dieser Entwicklungen deutlich überschritten werden. Bestenfalls fallen sie nur doppelt so hoch aus. Statt 200 Mio. Fr. resultierten dann Ausgaben von gegen 0,5 Mrd.
Wer lebenslang gearbeitet hat, soll kurz vor der Pensionierung nicht darben. Hat man mit den Überbrückungsleistungen aber das richtige Instrument gefunden? Ein Ausbau der ALV wurde von Bundesrat abgelehnt. Das wäre zu teuer, Ähnliches gilt für einen Ausbau der Ergänzungsleistungen. Warum suchte man nicht nach Lösungen bei den Arbeitgebern?
In den nächsten zwanzig Jahren fehlen 0,5 Mio. Arbeitskräfte. Warum sollen die 65-Jährigen eine vorzeitige Rente erhalten? Wäre es nicht gescheiter, Anreize für Arbeitgeber zu schaffen, die Leute länger zu beschäftigen – über eine Reduktion der AHV-Beiträge für über 65-Jährige? Die Überbrückungsrente bewirkt das Gegenteil: Sie ist gleichsam eine Einladung an kosten- und börsenorientierte Manager, ältere Arbeitnehmer vorzeitig zu entlassen. Sie werden vom Staat aufgefangen.
Das widerspricht sozialpartnerschaftlichen Gepflogenheiten. Arbeitslose brauchen vor ihrer Aussteuerung Hilfe, Unterstützung und Anreize zum Weiterarbeiten. In Branchen wie im Bau, wo die Leute physisch nicht länger arbeiten können, hat man mit der Vorfinanzierung der vorzeitigen Pensionierung ein Instrument geschaffen, das funktioniert.
Soziale Verantwortung
Früher haben Unternehmer Wohlfahrtsfonds gebildet, um Härtefälle abzusichern. Sie übernahmen soziale Verantwortung. Die Leute wollen und sollen beschäftigt werden. Investitionen wirken vielfältiger als Renten zum Konsum. Vor dem Ausgeben von Bundesmitteln müssen diese nämlich zuerst über Steuern vereinnahmt werden. Das werden vorab Unternehmen berappen müssen. Hinzu kommt die Erfahrung, dass jedes neue Sozialwerk künftig ausgebaut wird. Das ÜLG wird somit immer teurer.
Haben die Arbeitgeber diese langfristigen Auswirkungen ausgeblendet, weil sie die bilateralen Verträge nicht riskieren wollen? Die rohstoffarme, exportabhängige Schweiz war und ist stets auf ihr wichtigstes Kapital, das Humankapital, angewiesen. Bis anhin hat die Sozialpartnerschaft dazu Sorge getragen. Vielen Managern würde es gut anstehen, wenn sie Stakeholder vor Shareholder Value stellen würden. Nun wird die patronale Verantwortung dem Staat übertragen. Wahrlich eine Neuausrichtung der Wirtschaft.
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Steuerfinanzierte Ausgesteuerte
Das Parlament hat mit den Überbrückungsleistungen im Schnellverfahren eine neue Sozialversicherung geschaffen. Sie soll im Kampf gegen die Begrenzungsinitiative der SVP helfen. Ein Kommentar von Werner C. Hug.