«Die türkische Regierung will der EU vor dem Jahr 2023 beitreten» – das sagt Ankaras Botschafter Selim Yenel in einem Interview in der deutschen Zeitung «Die Welt». Dannzumal wird die von Atatürk gegründete Republik hundert Jahre alt, und wenn es so weitergeht, wird bis dahin das Erbe des entschieden westlich ausgerichteten Reformers weitestgehend liquidiert sein.
Die fortschreitende Islamisierung des Landes, das schillernde Verhältnis zu islamistischen Kräften auf der arabischen Halbinsel, der zunehmend autoritäre Charakter des Erdogan-Regimes, der blutige Konflikt mit den Kurden, der eingefrorene Zypern-Streit: All das und mehr würde die EU jedoch überfordern; von der Befürchtung, die europäischen Arbeitsmärkte würden überflutet, ganz abgesehen. Zudem hätte die an die 80 Millionen Menschen zählende Türkei innerhalb der EU sofort grosses Gewicht, was dort niemanden erwartungsfroh stimmt.
Ein Beitritt der Türkei wäre in den meisten EU-Staaten an der Wählerbasis unpopulär, was die Politiker wissen. Es drohten gegebenenfalls Vetos, etwa von Griechenland, Österreich oder Ungarn. Nicht einmal die einst noch für dieses Jahr ins Auge gefasste Visumsfreiheit für Türken ist derzeit ausgemachte Sache.
Selbst wenn das Land wirtschaftlich höchst entwickelt und ein tadellos demokratischer Rechtsstaat mit sauberer Trennung von Staat und Religion wäre, bliebe immer noch die unverrückbare Geografie: Die Türkei grenzt u. a. an Syrien, Irak, Iran, Aserbaidschan, Armenien und Georgien: «Hot Spots», wohin das Auge blickt. Sie hat eine lange Schwarzmeerküste, gegenüber baut Putins Russland auf der annektierten Krim die Flottenpräsenz aus. Ein solches geostrategisches «Exposure» kann die militärisch unbedarfte EU nie und nimmer riskieren. Sie hat die Grenzen ihrer Einflussprojektion bereits mit der halbherzigen Assoziierung der Ukraine – eines Landes von eindeutiger europäischem Charakter als die Türkei – und der rabiaten russischen Reaktion darauf erfahren.
Die EU, nach dem Brexit geschwächt und orientierungslos, ist weder willens noch in der Lage, der Türkei mehr als lust- und endlose Verhandlungen anzubieten. Schliesslich ist dieser wichtige Pufferstaat (und Flüchtlingsbeherberger) an der auf unabsehbare Zeit unruhigen Südostflanke halbwegs bei Laune zu halten. Und die EU hat kein Interesse daran, die Türkei der Nato zu entfremden.
Der türkischen Diplomatie wird sehr wohl bewusst sein, dass ein Beitritt zur EU selbst bis beispielsweise 2050 oder 2100 ausgeschlossen bleibt (sofern dannzumal die Europäische Union überhaupt noch in ähnlicher Gestalt wie heute besteht). Warum also stellt sie unerfüllbare Forderungen? Es lässt sich mutmassen, dass Machtmensch Erdogan keinen Hebel unberührt lässt, mit dem er die EU bewegen kann. Auch die jüngste Versöhnungsvisite bei Putin diente ein Stück weit diesem Zweck. Vielleicht verfolgt Ankara gar keine ernsthafte Beitrittsstrategie, sondern setzt dieses Begehren nur taktisch ein, um Vorteile herauszuschlagen. Vielleicht verlangt sie den Beitritt nur zum Schein, so wie die EU nur zum Schein darüber verhandelt.
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Türkei setzt EU unter Druck
Ankaras Forderung nach baldigem Beitritt zur Europäischen Union könnte eher taktisch als strategisch motiviert sein. Ein Kommentar von FuW-Ressortleiter Manfred Rösch.