Der Schweiz geht es gut. Verglichen mit fast allen anderen Ländern ist sie reich,
weist eine akzeptable Verteilung aus, ist dementsprechend politisch immer noch ziemlich stabil, hat gesunde Staatsfinanzen und ist glimpflich durch die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Entsprechend findet sich die Schweiz in Rankings bezüglich Konkurrenzfähigkeit, Wohlstand und anderer sozialer Indikatoren jeweils auf den vordersten Plätzen.
Dennoch gibt es seit Jahrzehnten eine kritisch-besorgte Literatur über die Entwicklung der Schweiz, die häufig zu pessimistischen Schlussfolgerungen bezüglich ihrer Zukunft gelangt, wenn sich die kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen nicht grundlegend im Sinne der Autoren verbessern. Detaillierte Kataloge von zu ergreifenden Massnahmen sind in den meisten Schriften Teil des Gesamtpakets.
Prof. Wittmann bewirtschaftet das Thema seit 40, Prof. Borner (zum Teil mit Koautoren) seit 25 Jahren. Genannt seien auch die Arbeiten der Gruppe Leutwiler/ Schmidheiny (1991) und de Pury/Hauser/Schmid (1995), und für Avenir Suisse gehört das Thema ohnehin zum Kerngeschäft. Es wären noch andere zu nennen, als neustes Produkt «Die Schrumpfschweiz. Auf dem Weg in die Mittelmässigkeit» von Simon Geissbühler (2014).
In dieser Literatur steht hinsichtlich der Diagnosen viel Bedenkenswertes und hinsichtlich der vorgeschlagenen Massnahmen viel Beherzigenswertes. Aber bewirkt hat sie nichts. Im besten Fall erregt sie für kurze Zeit Aufsehen und führt zu einigen Diskussionen oder auch nur Gehässigkeiten. Dann wird sie schnell vergessen, sodass nach ein paar Jahren erneut geschrieben wird, was man schon x-mal gelesen hat. Die Frage ist: warum?
Politiker und das Gesamtinteresse
Zwei Antworten sind naheliegend. Die kritischen Diagnosen gehen letztlich an der durch den Vergleich mit anderen Ländern geprägten Wahrnehmung der Adressaten vorbei. Typisch ist die oft zu hörende Einschätzung, die Kritik sei zwar berechtigt, aber übertrieben. Man müsse nur über die Landesgrenzen schauen, um wieder auf den Boden der wesentlich günstigeren helvetischen Realität zu kommen. Wer sich noch an frühere düstere Prognosen eines Autors erinnert, wird zudem bemerken, dass sie nicht eingetreten sind, was seine neueste Einschätzung der Lage und der weiteren Entwicklung relativiert.
Einen anderen wichtigen Punkt hebt eine dritte Antwort hervor, die sich besonders darauf bezieht, dass die vorgeschlagenen Massnahmen so gut wie nie realisiert werden. Politiker verhalten sich im Allgemeinen ökonomisch im Sinn der kurzfristigen Maximierung ihrer Eigeninteressen, während die vorgeschlagenen Massnahmen nach dem Willen ihrer Urheber darauf abzielen, ein (wie auch immer definiertes) langfristiges Gesamtinteresse zu fördern. Da aber die Politiker jeweils über die Macht verfügen, setzen sie im Konfliktfall ihre Eigeninteressen durch.
Da stellt sich allerdings sogleich eine neue Frage. Wahrscheinlich ist die Rückbindung der Politiker an die Wählerschaft in keinem Land so eng wie in der Schweiz mit ihren direkten Volksrechten und ihrem ausgeprägten Föderalismus. Ist es möglich, dass die Politiker während Jahrzehnten alle Warnungen in den Wind schlagen und gegen die langfristigen Gesamtinteressen handeln können? Diese Frage öffnet ein weites Feld – vielleicht ein Minenfeld, und das mag der Grund dafür sein, dass eine gewisse Scheu besteht, sich dort hinein zu begeben. Zwei Aspekte dieser Frage sind getrennt zu analysieren, obwohl sie in der Realität sicher beide eine Rolle spielen.
Nimmt man einmal an, dass das Stimm- und Wahlvolk tatsächlich mehrheitlich und im Wesentlichen diejenigen langfristigen Gesamtinteressen verfolgen möchte, welche die Autoren als erstrebenswert unterstellen, dann stellt sich sofort die Frage, warum sich dieses langfristige Mehrheitsinteresse im politischen Prozess nicht durchzusetzen vermag. Diese zentrale Frage der Demokratietheorie wird in der Schweiz, wenn sie überhaupt angesprochen wird, zumeist nur auf die direkten Volksrechte bezogen, die tatsächlich von manchen Autoren für die angebliche Misere (mit-)verantwortlich gemacht werden.
Unglücklicherweise gibt es aber zwei Argumente, die eine tiefschürfende Diskussion dieser wichtigen Frage bisher weitgehend verhindert haben. Das eine ist der Hinweis auf die parlamentarischen Demokratien, deren Stand und Entwicklung der Schweiz nach verbreiteter Meinung nicht vorzuziehen ist. Dazu kommt, dass es unter Schweizer Ökonomen eine sehr einflussreiche Sekte gibt, die die direkten Volksrechte ganz im Gegenteil für fast alles (mit-)verantwortlich macht, was die Schweiz in ihren Augen positiv von anderen Ländern unterscheidet, und die daher nicht für weniger, sondern für mehr direkte Volksrechte plädieren.
In diesem hochideologischen Getümmel ist die Möglichkeit, dass die Funktionsweise von direkten Volksrechten einem historischen Wandel unterliegen könnte, bis vor kurzem nie erwogen worden. Erst seit neuestem wird darauf hingewiesen, dass sich vor allem die Initiative von einem Agenda-Setting-Recht für Minderheiten zu einem Marketing-Instrument vor allem der beiden mächtigen Pol-Parteien entwickelt habe. Das ist richtig, betrifft aber nur einen Aspekt des historischen Wandels der Funktionsweise der direkten Volksrechte. Es ist jedoch zu vermuten, dass gesellschaftliche Veränderungen auch andere Aspekte der Aggregationsleistung demokratischer Institutionen verändern. Im Fall der Schweiz mit ihren grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen seit den Sechzigerjahren ist dies sogar sehr wahrscheinlich. Hiermit müsste sich die neuerdings wieder aufgeflammte Diskussion über die direkten Volksrechte erst einmal umfassend beschäftigen, bevor aus dem hohlen Bauch heraus Veränderungen vorgeschlagen werden.
Gesellschaftliche Umwälzung verstehen
Möglicherweise haben aber gar nicht (bzw. nicht nur) die politischen Institutionen (bzw. ihre veränderte Funktionsweise) zu den in den Jeremiaden beklagten Entwicklungen geführt. Es könnte auch sein, dass der politische Prozess die Mehrheitsmeinungen annähernd richtig repräsentiert, dass diese Mehrheitsmeinungen aber ganz andere sind, als die klagenden Autoren unterstellen oder wünschen. Schreiben die Jeremiaden an der Mehrheit vorbei, und bleiben sie deswegen so völlig folgenlos?
Auch diese Möglichkeit sollte man, wiederum in einer historischen Perspektive, gründlich erwägen. So wie die gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten fünfzig Jahre vermutlich die Funktionsweise der direkten Volksrechte verändert haben, könnten sie auch die Meinungen, Wünsche und Anliegen in einer Mehrheit der Bevölkerung verändert haben.
Wer verstehen will, was in der Schweiz geschieht, sollte vor der Kritik zu den gesellschaftlichen Ursachen der Entwicklung vorstossen, und dies geht nicht ohne eine Auseinandersetzung mit der schweizerischen historischen Besonderheit einer partiell lange verzögerten gesellschaftlichen Modernisierung vom Beginn der Industrialisierung bis in die Sechzigerjahre und mit dem stürmischen Nachholprozess seither.
Statt das Volk bzw. gelegentliche Mehrheiten und die politischen Institutionen zu kritisieren, sollte man erst einmal versuchen, sie in ihrer historischen Entwicklung, besonders der letzten fünfzig Jahre, zu verstehen. Die jüngste Jeremiade stammt von einem Historiker, und mit seiner Beobachtung, dass die Schweiz sich dem europäischen Durchschnitt angleiche, ist er dem entscheidenden Punkt sehr nahe gekommen. Aber statt zu fragen, warum die Entwicklung so verläuft, begnügt er sich damit, sie zu kritisieren – wie alle seine Vorgänger. So kommen wir nicht weiter.
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Vergebliche Jeremiaden
Regelmässig werden besorgte Diagnosen zur wirtschaftlich-politischen Entwicklung der Schweiz veröffentlicht, mitsamt Therapievorschlägen. Sie gehen jedoch nicht auf die Ursachen ein. Ein Kommentar von Henner Kleinewefers.