Es gibt zwei Arten von Prognostikern, pflegte der Ökonom John Kenneth Galbraith zu sagen: die, die nichts wissen, und die, die nicht wissen, dass sie nichts wissen. Anleger tun gut daran, sich diese Tatsache zu vergegenwärtigen, wenn das alte Jahr ausläuft und sie mit Vorhersagen für 2015 überhäuft werden: Wir wissen nichts über die Zukunft. Absolut nichts. Was wir über die Zukunft glauben, zu wissen, ist bloss die Extrapolation der Gegenwart – eine Wissensillusion, die gefährlich sein kann.
Ein Blick auf das Jahr 2014 mit einigen beliebig ausgewählten Beispielen verdeutlicht die Zwecklosigkeit vieler Prognosen: Keine Bank hat die Halbierung des Ölpreises vorhergesehen. Im Frühjahr war es unter Ökonomen weitgehend Konsens, dass sich die Wirtschaft in Europa erholen wird. Das Gegenteil geschah. Zu Beginn des Jahres lautete die allgemein akzeptierte Meinung, dass die Zinsen amerikanischer Staatsanleihen steigen, weil die US-Notenbank ihre Geldpolitik drosselt. Doch die Zinsen sanken.
Das ist die Krux der Historie: Im Rückblick erscheint der Geschichtsverlauf immer logisch, treten Kausalketten deutlich zum Vorschein. Doch aus Sicht der Gegenwart ist die Zukunft völlig offen. Aus dieser – nur auf den ersten Blick banalen – Erkenntnis lassen sich wichtige Lehren ableiten.
Der Hunger nach Gewissheit
Wie kommt es, dass Prognosen zur Wirtschaft und zu den Finanzmärkten notorisch falsch sind? Oft gelingt es bestbezahlten Analytikern nicht einmal, die blosse Richtung einer Preisbewegung vorherzusagen. Doch das hängt nicht an mangelhaftem Können, sondern schlicht am Charakter der Materie: Wirtschaft und Finanzmärkte sind komplexe, dynamische Systeme, die von der Interaktion unzähliger Menschen mit unvorhersehbaren Präferenzen geprägt werden. Im Gegensatz zur Physik, wo Naturgesetze gelten, sind Wirtschaft und Finanzmärkte nicht modellier-, abschliessend erklär- und somit auch nicht prognostizierbar.
Dennoch beschäftigen sich weltweit Tausende von Ökonomen und Analysten genau damit: Prognosen abzugeben. Mit bemerkenswertem Selbstbewusstsein setzen sie punktgenaue Kursziele für Aktienkurse, Indizes, Währungen, Rohstoffpreise, Zinsen. Wozu bloss, wenn doch hinlänglich erwiesen ist, dass niemand konsistent den Markt schlagen kann?
Die Antwort ist simpel: Wir alle haben ein Verlangen nach Gewissheit. In einer komplexen, lärmigen Welt dienen Vorhersagen als Navigationshilfen, die ein Gefühl von Sicherheit verleihen. Auch wenn sie falsch sind. Den Prognostikern dienen präzise Aussagen derweil als Kompetenzbeweis. Wer will von einem Ökonomen hören, er habe keine Ahnung, wie sich das Wirtschaftswachstum entwickelt? Wie populär ist die Antwort «ich weiss es nicht», wenn nach dem Verlauf der Börsen gefragt wird? So ziehen beide Seiten, Empfänger und Absender, ihren Nutzen aus der Scharade der Wirtschaftsprognosen.
Heisst das nun, dass jegliche Vorhersagen unnütz und Investoren hilflos treibend den Launen der Finanzmärkte ausgesetzt sind? Nein. Die Kenntnis des eigenen Nichtwissens ist sogar enorm wertvoll, denn sie schützt vor Selbstüberschätzung, lehrt Demut und hält den Zweifel – den Quell der Vernunft – aufrecht. Der Nutzen des Nichtwissens lässt sich auf dreierlei Weise verstehen: Erstens hilft Nichtwissen, die eigenen Beschränkungen zu erkennen. Zweitens zwingt es, in Szenarien zu denken. Drittens setzt es Energie frei, um sich echtes Wissen anzueignen.
Zum ersten Nutzen: Charlie Munger, Geschäftspartner des Value-Investors Warren Buffett, sagte einst, echte Kompetenz besitze man erst, wenn man weiss, wo sie endet. Das Wissen um das eigene Nichtwissen hilft dabei. Einige der grössten Unfälle der Wirtschaftsgeschichte sind geschehen, weil die Akteure an Selbstüberschätzung und Wissensillusion litten. Die Bankmanager, die 2008 ins Verderben rasten – hierzulande sei an die UBS erinnert –, waren nicht dumm. Sie fühlten sich bloss zu sicher in der Scheinpräzision ihrer Risikomodelle; sie glaubten zu wissen, dass sie alles unter Kontrolle haben.
Gegenwärtig muss zu denken geben, mit welcher Überzeugung die Zentralbanken – das Fed, die EZB, die Bank of Japan und, ja, auch die SNB – ungeprüfte Pfade beschreiten. Die Männer und Frauen an der Spitze dieser Kolosse glauben exakt zu wissen, welche Wirkung ihre Politik in der realen Wirtschaft entfaltet. Sie zweifeln nicht daran, dass sie jederzeit die Kontrolle über das System behalten. Tun sie das wirklich? Oder erliegen sie einer grandiosen Wissensillusion?
Ebenso nachdenklich muss stimmen, wenn der CEO einer Schweizer Grossbank in Interviews öffentlich erklärt, es sei «undenkbar», dass sein Institut jemals derart grosse Verluste erleide, dass es vom Staat gerettet werden müsse. Das darf nicht undenkbar sein. In komplexen Systemen – und das sind die Finanzmärkte – sind extreme Ereignisse viel häufiger, als es die gängigen, auf Normalverteilung geeichten Modelle suggerieren. Es sind immer die undenkbaren Ereignisse, die zur Katastrophe führen.
Lehren von Keynes und Hayek
Die Beschäftigung mit dem Undenkbaren führt zum zweiten Nutzen des Nichtwissens: dem Zwang zum Denken in Szenarien. In der Schweiz etwa ist gegenwärtig oft das Argument zu hören, ein Immobiliencrash wie in den USA sei nicht möglich, weil der Platz knapp, die Zuwanderung hoch und die Zinsen niedrig bleiben. Wissen wir das? Was, wenn die Zinsen eines Tages steigen oder die Zuwanderung stoppt? Was ist, wenn die Immobilienpreise landesweit 30% einbrechen? Was wären die Auswirkungen?
Damit sei nichts über die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios gesagt. Aber es lohnt sich, es durchzudenken. Oder das Beispiel China: Ein gängiges Argument lautet, dass die Zentralregierung den Verlauf der Wirtschaft stets im Griff habe. Wissen wir das? Kann Peking ein derart riesiges, komplexes System kontrollieren? Was, wenn in China eine Kreditblase platzt, das Bankensystem kollabiert, die Wirtschaft in die Rezession fällt und der Renminbi 50% abgewertet wird? Wer in Szenarien denkt, bleibt agil.
Der dritte Nutzen des Nichtwissens: Wer sich nicht mit unnützen Prognosen beschäftigt und sich einer Wissensillusion hingibt, hat mehr Energie, um sich echtes Wissen anzueignen. Dazu zählen Muster aus der Historie. Vieles, was heute in Europa geschieht, spielte sich in den Neunzigern bereits in Japan ab. Das China der Gegenwart zeigt Parallelen zu Japan in den Achtzigerjahren und den USA in den Zwanzigern. Der Herbst 2008 sah dem Sommer 1931 erschreckend ähnlich. Die Aufzählung liesse sich beliebig verlängern. Die Geschichte wiederholt sich nicht, soll Mark Twain gesagt haben, aber sie reimt sich.
Es ist kein wohliges Gefühl, sich einzugestehen, dass man nichts über die Zukunft weiss. Der Hunger nach Gewissheit ist gross. Vieles, was in der Ökonomie und in der Finanztheorie seit den Sechzigern entwickelt und gelehrt wurde, bedient diesen Hunger. Doch die mathematisch ausgeklügelten Risikomodelle und Prognosemethoden schaffen hauptsächlich eines: die Illusion von Wissen. Zwischendurch lohnt es sich daher, der Scheinpräzision der Modelle zu entsagen und Rat bei John Maynard Keynes und Friedrich von Hayek zu suchen. Denn was die zwei grossen Antagonisten der Ökonomie im 20. Jh. einte, war eine simple Überzeugung: dass wir uns niemals zu viel Wissen über die Funktionsweise der Wirtschaft einbilden sollten.
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Vom Nutzen des Nichtwissens
Prognosen zum Verlauf der Wirtschaft und der Finanzmärkte sind meist unnütz. Wer weiss, dass er nichts über die Zukunft weiss, lebt weniger gefährlich. Ein Kommentar von FuW-Chefredaktor Mark Dittli.