Vorsorge geht vor
Auf einem Vorsorgekonto parkierte Freizügigkeitsleistungen fallen weder in den Nachlass noch unterliegen sie der erbrechtlichen Herabsetzung.
Auf einem Vorsorgekonto parkierte Freizügigkeitsleistungen fallen weder in den Nachlass noch unterliegen sie der erbrechtlichen Herabsetzung. Dies gilt nach einem Grundsatzurteil des Bundesgerichts auch für den überobligatorischen Teil der beruflichen vorsorge. - Im April 1997 verstarb ein Mann kurz nach Auflösung seiner zweiten Ehe. Er hinterliess zwei volljährige Töchter aus erster Ehe sowie eine minderjährige Tochter aus zweiter Ehe. Weil der Mann im Zeitpunkt des Todes arbeitslos war, befand sich sein Pensionskassenguthaben von 157000 Fr. auf einem Freizügigkeitskonto. Ansonsten besass er kein Vermögen, weshalb die Tochter aus zweiter Ehe die Erbschaft ausschlug. Die Freizügigkeitsstiftung, die 83000 Fr. aus dem obligatorischen und 74000 Fr. aus dem überobligatorischen Teil verwaltete, teilte den beiden volljährigen Töchtern mit, dass gemäss ihres Reglements der ganze Vorsorgebetrag ihrer minderjährigen Halbschwester zustehe. - Die beiden Frauen akzeptierten diesen Entscheid nicht. Sie konnten nicht begreifen, dass sie die Erbschaftsschulden von 19000 Fr. bezahlen, aber keinen Anspruch auf das einzig vorhandene Vermögen ihres Vaters haben sollten. Sie stellten sich auf den Standpunkt, die Freizügigkeitsleistung, soweit sie aus der überobligatorischen Vorsorge stamme, gehöre in die Erbmasse und erhoben Klage beim Kantonsgericht Schaffhausen. Sie forderten, ihre minderjährige Halbschwester sei zu verpflichten, ihnen den Betrag von 74000 Fr. entsprechend dem überobligatorischen Teil zu bezahlen. - Das Kantonsgericht Schaffhausen erwog, Leistungen aus der obligatorischen beruflichen Vorsorge (Säule 2a) seien nicht zum Nachlass zu rechnen; gleiches gelte auf Grund des Vorsorgezwecks auch für das entsprechende Freizügigkeitskapital. Anders verhalte es sich jedoch mit der Austrittsleistung aus der überobligatorischen beruflichen Vorsorge (Säule 2b), weil die Vorsorgevereinbarung hier als privatrechtlicher Vertrag zu qualifizieren sei. Dementsprechend verpflichtete das Gericht das Mädchen, ihren beiden Halbschwestern «zur Tilgung der Erbschaftsschulden und als Erbanteil an der überobligatorischen Vorsorge» den Betrag von 47000 Fr. zu bezahlen. Das Obergericht Schaffhausen bestätigte diesen Entscheid, worauf der Anwalt des minderjährigen Mädchens das Bundesgericht anrief. - Die Lausanner Richter entschieden, dass Freizügigkeitsleistungen weder in den Nachlass fallen noch der erbrechtlichen Herabsetzung unterliegen. Dies gilt sowohl für das Obligatorium wie auch für die überobligatorischen Komponenten der Vorsorge. Laut Bundesgericht ist die Bevorzugung der Witwe sowie der unterhaltsberechtigten Waisen gegenüber andern pflichtteilgeschützten Erbberechtigten auch im überobligatorischen Bereich ein wesentliches Merkmal des Vorsorgevertrages. Dies gilt jedenfalls für den Normalfall, weil ein Arbeitnehmer hinsichtlich der Ausgestaltung der Vorsorge faktisch «unfrei» ist. - Wie es sich in Bezug darauf mit individuell ausgestalteten oder über die normale Vorsorge hinausgehenden Vorsorgeverträgen für höhere Kader und vor allem für Unternehmer verhält, lässt das Bundesgericht in seinem Entscheid allerdings ausdrücklich offen. Ob hier allenfalls ein Tummelfeld für «kalte Enterbungen» besteht, wird die Zukunft zeigen. - Wesentlich ist für das Bundesgericht, dass das Ableben eines Versicherten, der für einen Ehegatten, unmündige Kinder oder andere Personen aufgekommen ist, einen Vorsorgefall auslöst. Ihnen die Vorsorge teilweise zu entziehen, nur weil das Vorsorgekapital infolge Arbeitslosigkeit einer Freizügigkeitseinrichtung überwiesen wurde und deshalb keine Rente ausbezahlt wird, wäre unbillig. Es dränge sich deshalb auf, das Vorsorgekapital für die Zeit, während der ein Versicherter keiner Vorsorgeinrichtung angehört, nicht anders zu behandeln, als wenn ein Vorsorgeverhältnis bestünde. Das Bundesgericht räumt zwar ein, dass die Lösung «auf den ersten Blick zu stossenden Konstellationen führen kann». Das stossende sei aber der Umstand, dass sich das ausbezahlte Kapital bei den Freizügigkeitskonten und den Kapitalpolicen im Unterschied zu den Renten der beruflichen Vorsorge nicht nach den effektiven Vorsorgebedürfnissen der Anspruchsberechtigten richtet. Urteil: 5C.212/2002 vom 24. April 2003.Urs-Peter Inderbitzin