Wie nur konnte es zu diesem verrückten Krieg kommen? Die Interpretation vieler Putin-Versteher, Russland habe aufgrund seiner Geschichte Komplexe und fühle sich vom Westen bedroht, ist falsch. Nicht Länder haben Komplexe und Ängste, sondern Menschen. Das gilt auch für Autokraten. Ebenso falsch ist das Geschwätz, Ukrainer und Russen seien doch ein Volk und gehörten deshalb ins selbe Reich. Genau weil sie eng verwandt sind, gehören sie nicht in ein Land. Ausgerechnet die Deutschsprachigen sollten das verstehen. Sie sind untereinander auch ziemlich ähnlich, aber zum grossen Glück auf mehrere Länder verteilt. Das bringt Wettbewerb, gegenseitige Befruchtung, Innovation und hohe Lebensqualität.
Nur für Autokraten ist das anders: Für sie sind gleichsprachige Nachbarländer brandgefährlich, sobald sie erfolgreich werden. Denn sie demonstrieren den Untertanen des Autokraten gut sichtbar und verständlich, wie schlecht er regiert, sie bieten ihnen eine gute Auswanderungsmöglichkeit, und sie dienen seiner Opposition als Zufluchtsort und Brutkasten. Der Angstzustand von Herrn Putin war also prognostizierbar. Doch nun stellt sich die Frage: wie weiter?
Was bringen die Sanktionen? Herkömmliche Handelssanktionen gegen ein Land wie Russland verknappen dort die Importgüter und treiben einen Keil zwischen Inland- und Weltmarktpreise, während der Exporterlös sinkt. Dadurch schrumpft das Realeinkommen der Bevölkerung. Der Regierung und ihrer Entourage aber nützen die Sanktionen, weil sie ihre Macht gegenüber Oppositionsgruppen und Bürgern vielfach stärken.
Fidel Castro stand das Embargo durch
Erstens werden viele Güter, die die Regierung und ihre Klientel produzieren oder kontrollieren, knapper und wertvoller. In Russland könnte dies vorübergehend auch für die von der Regierung kontrollierten Gas- und Erdölexporte gelten, falls die Steigerung der Weltmarkpreise den Sanktionsabschlag übersteigt. Zweitens verschaffen Sanktionen der Zielregierung einen Freipass, Importe und Exporte selbst zu beschränken und Ausnahmebewilligungen gezielt an Freunde zu vergeben. Drittens ermöglichen die Preisunterschiede zwischen dem Inland und dem Weltmarkt riesige Schmuggelgewinne. Die Regierung und ihre Entourage können die illegalen Ein- und Ausfuhren gut kontrollieren, da sie im eigenen Land frei operieren und selbständige Schmuggler an die sanktionierenden Staaten verpfeifen können. Sie sind also die grossen Embargogewinnler, während die Bevölkerung und die Privatwirtschaft durch Knappheit und Verarmung zunehmend von der Regierung abhängig sind und zur Kollaboration gezwungen werden. Auch die potenzielle Opposition wird vereinnahmt: Die Regierung kann wichtigen Exponenten im Tausch für politisches Stillhalten knappe Ressourcen und Importrechte vergeben und sie so abhängig machen.
Viele historische Beispiele belegen diese Zusammenhänge. In Kuba war Fidel Castro auch nach über fünfzig Jahren US-Embargo fest im Sattel, Saddam Hussein und Slobodan Milosevic sowie ihre Entourage bereicherten sich über viele Jahre an den gegen sie gerichteten Embargos, und in Gaza profitierte die Hamas dank dem israelischen Embargo massiv vom Schmuggel und von der Verteilung rationierter (Hilfs-)Güter.
Wegen dieser Misserfolge werden heute oft gezielte «Smart Sanctions» eingesetzt. Doch sie leiden an ähnlichen Problemen. So machen Reise- und Finanztransaktionsverbote die sanktionierten «Freunde des Regimes» nur noch abhängiger vom Autokraten. Die Hoffnung, dass sie Putin fallen lassen, um ihre Jachten zurückzuerhalten, dürfte vergebens sein. Viele von ihnen fürchten, mit Putin zu fallen, denn die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass eine Nachfolgeregierung die Herkunft ihres Reichtums überprüfen und sie zu Recht oder Unrecht abstrafen wird.
Alternativen eröffnen
Weshalb werden Embargos dann immer wieder eingesetzt? Zum einen sind sie oft billiger als militärische Gewalt. Zum anderen haben sie schon eine Wirkung. Die Volkswirtschaft unter Embargo wird schwer geschädigt, sodass dem Diktator längerfristig die Ressourcen für teure Aufrüstung und Kriegsabenteuer fehlen. Typische Beispiele dafür waren Hussein und Milosevic. Nach vielen Jahren Embargo waren ihre Armeen so blutleer, dass sie problemlos überrannt werden konnten. Nur herrscht danach totales politisches Vakuum, da die ganze Wirtschaftstätigkeit und die Gesellschaftsstruktur infolge des langjährigen Embargos ganz auf den Autokraten ausgerichtet und die Institutionen völlig ausgehöhlt wurden.
Was also tun? Die USA und die EU sollten den Handlungsspielraum der Mitglieder unliebsamer Regierungen und ihrer Entourage nicht ausschliesslich mit Sanktionen verengen, sondern zugleich fruchtbar erweitern. Diese Menschen fürchten um Freiheit, Leben und Vermögen und haben nur eine Alternative: sich mit allen Mitteln an die Macht zu klammern. Folglich müssen ihnen Alternativen gegeben werden. Ich bin deshalb für die Einführung einer Kronzeugenregelung.
Wer aus diesen Regimes ausbricht, seine Vermögenslage offenlegt und wertvolle Informationen über das System preisgibt, darf einen kleinen Bruchteil seines unrechtmässig erworbenen Vermögens behalten und erhält Straffreiheit. Die Kronzeugenregelung wurde und wird erfolgreich im Kampf gegen Kartelle, Steuerhinterziehung und die Mafia eingesetzt. Sie dürfte auch gegen kriminelle Regimes funktionieren, und es wäre ein sehr faires Angebot. Alle dürften gegen ihre Mittäter aussagen, auch der Autokrat selbst. Natürlich ist es schwieriger, eine solche Regel zwischen Ländern anzusetzen als innerhalb eines Landes, doch unter Absprache mit dem bedrohten Land (hier der Ukraine) wäre es durchaus möglich, sie schnell einzusetzen.
Ansatzpunkte für Neutrale
Und was kann die Schweiz tun? Die Schweiz hat eine langjährige Reputation für ihre Neutralität. Sie sollte sie nicht durch die Übernahme unwirksamer Sanktionen verscherzen. Vielmehr sollte sie ihre Neutralität aktiv nutzen. Zwei Ansatzpunkte sind besonders wichtig.
Humane Behandlung von Kriegsgefangenen: Sie stärkt die Position der Verteidiger. Wenn Soldaten in Gefangenschaft gut behandelt werden, sind sie eher bereit, die Waffen niederzulegen und sich in Gefangenschaft zu begeben. Das gilt besonders für Angreifer, da sie in aller Regel schlechter motiviert sind als die Verteidiger. Auch die Kontaktnahme von Gefangenen mit ihrer Familie und die Rückführung von verletzten Gefangenen in ihr Herkunftsland wirkt asymmetrisch gegen Angreifer, die ihren Krieg vor ihrer Bevölkerung zu verheimlichen versuchen. Die ukrainische Regierung scheint diese Zusammenhänge gut verstanden zu haben, doch sind ihre Versprechen für die russischen Soldaten natürlich wenig glaubwürdig. Die Schweiz sollte solche humanitär bestens begründete, aber militärisch wirksame Massnahmen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln grosszügig fördern, natürlich auf beiden Kriegsseiten. Dabei kann sie auch auf die grossartige Tradition des Roten Kreuzes zurückgreifen.
Asyl: Die Schweiz sollte Opfern und Tätern gezielt Asyl unter attraktiven Bedingungen anbieten. So könnte die Schweiz von Ländern, die auf ihrem Gebiet Offiziere anderer Armeen verhaften, diese Gefangenen übernehmen und ihnen einen zivilen Ausbildungsplatz anbieten. Dadurch würden die Angreifer geschwächt. Da diese Regel für alle Länder gilt, wäre sie mit einer aktiven Neutralität vereinbar. Zudem sollte die Schweiz den Spitzenpolitikern aller kriegsbeteiligten Ländern Asyl anbieten – natürlich unter Wahrung der Rechte des internationalen Strafgerichtshofs. Das wäre ganz neutral. Aber die Botschaft wäre klar.
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Was nur sollen wir tun?
Die USA und die EU sollten den Handlungsspielraum der Mitglieder unliebsamer Regierungen und ihrer Entourage fruchtbar erweitern. Ein Kommentar von Reiner Eichenberger.