Eine der grössten Wirtschaftskrisen der Neuzeit hat paradoxerweise eine neue Investorengeneration hervorgebracht, die sich in neuartiger und eigenwilliger Weise an den Börsen tummelt. Sie ist bewusst risikofreudig, fühlt sich bestens informiert und ist skeptisch gegenüber klassischen Bankkanälen. Zum neuartigen Lifestyle dieser Corona-Trader gehören verschwimmende Grenzen zwischen Entertainment, Shopping und Investments. Anlagegeschäfte werden mit der gleichen Selbstverständlichkeit durchgeführt wie auf Amazon der Warenkorb gefüllt, auf Facebook um Aufmerksamkeit gebuhlt und die neuste Netflix-Serie via Twitter gehypt wird.
Falsch wäre allerdings die Annahme, dass es sich dabei nur um sehr junge Leute und eher kleinere Portfolios handelt. Die Gruppe der Corona-Trader ist soziodemografisch bunter gemischt, als man denkt – ausser, was das Geschlecht betrifft: Online Trading ist auch in Coronazeiten sehr stark männlich dominiert.
Ersten Datenerhebungen zufolge gibt ein nicht unbedeutender Anteil dieser neuen Trader-Generation als Handlungsmotiv während der eher tristen Zeit der Lockdowns an, der Langeweile entrinnen zu wollen und den besonderen Kick zu suchen. Die Performance dieser Anleger gibt ihnen zumindest bis heute mehr als recht. So hat sich generell seit Mitte März vergangenen Jahres das Eingehen von hohen Risiken als Anlagestrategie bewährt. Konzentrierte und gehebelte Wetten auf einzelne meist kleinere Titel werden dabei geradezu gesucht – Diversifikation und Blue Chips sind von gestern. Faktisch waren es die Geld- und die Fiskalpolitik, die die Märkte nach dem ersten Coronaschock beruhigten und dann zu eindrücklichen Kursgewinnen führten. Doch die Wahrnehmung vieler Trader, die über soziale Medien Trading-Strategien austauschen und in den Chatrooms über ihre erquicklichen Profite nicht ungern prahlen, ist eine ganz andere.
Demokratisierung oder Gamification?
Die psychologischen Phänomene der Kontrollillusion und der Selbstattribution spielen im aktuellen Kontext eine besondere Rolle. So verleihen die digitalen Welten dem im Trainingsanzug am Küchentisch sitzenden Trader das Gefühl, mit seinem Laptop ein regelrechter Wolf der Wallstreet zu sein. Er hat die scheinbare Kontrolle über das Geschehen an den Börsen, und Erfolge werden dem eigenen Können zugeschrieben. Die Schlagzeilen rund um die GameStop-Aktien haben dies kürzlich in einer ersten Lesart eindrücklich dokumentiert, ja zelebriert. Inzwischen gibt es aber einen etwas anderen Blick auf die Ereignisse. In dieser zweiten Lesart ist der Schwarm der Corona-Trader selbst manipuliert worden, und viele Trader haben letztlich viel Geld verloren. Der Preiszerfall der GameStop-Aktien um über 90% vom Höchstkurs spricht Bände. Die Welpen glaubten also etwas zu früh, zu den Wölfen der Wallstreet zu gehören.
Wie wird man die aktuelle Börsenphase und ihre vielen sonderbaren Phänomene – Negativzinsen, IPO- und Spac-Boom ( Special Purpose Acquisition Companies bzw. Firmenhüllen), Kryptowährungen usf. – wohl rückblickend bewerten? Das Gesamtbild ist facettenreich. Dem derzeitigen Demokratisierungsschub des Aktiensparens kann auch viel Positives abgewonnen werden. Je mehr das Aktiensparen sich verbreitet und umso mehr Menschen sich Gedanken zu ihren privaten Finanzen machen, desto besser.
Es scheint nun aber eine Generation an die Börse zu kommen, die noch keinen veritablen Börsencrash erlebt hat und bisher eine zumindest unübliche Risikopräferenz an den Tag legt: Während die allermeisten Investoren eine klare Risikoaversion aufweisen, scheinen einige vermehrt eine regelrechte Risikosucht zu entwickeln. Die Suche nach den nächsten Aktien, die sich in kurzer Zeit ver-x-fachen, ist das eigentliche Anlageziel. Zwischen der Börse, Sportwetten oder Videospielen bleiben kaum mehr Unterschiede. Diese Gamification der Börse ist keine gesunde Entwicklung und klarer Ausdruck eines sich überhitzenden Marktes.
Die aktuelle Entwicklung allerdings nur auf das Phänomen unerfahrener Neu-Trader zu reduzieren, hiesse zu verkennen, dass auch grosse private und institutionelle Anleger sich zunehmend als mutige Wölfe geben. Beobachtbar ist dies etwa anhand der zunehmenden Nutzung von Leverage, Margin Trading und Lombardkrediten in der Portfoliostrategie oder an der Allokation in immer illiquideren Anlageklassen. Manche Bank unterstützt diese Strategie im Private Banking und im Asset Management grosszügig, um nicht ganz selbstlos die schwächelnden Margen zu erhöhen. Wie bei vielen Entwicklungen ist das nicht per se eine falsche Anlagestrategie, und es gibt rationale Gründe, sie zu verfolgen.
Doch je länger die damit verbundene schleichende Risikoerhöhung voranschreitet, desto mehr neigt man dazu, dies als Normalität zu betrachten. Dies wird mit dem verbreiteten Terminus des New Normal ja auch genau so suggeriert und legitimiert. Begleitet werden diese Anlagestrategien mit einem professionellen Risikomanagement, das die Risiken in Schach halten soll. Je länger ein Zyklus dauert, desto mehr Vertrauen hat man in die Modellberechnungen, deren historische Berechnungsfenster (meistens die letzten zehn bis fünfzehn Jahre) aber bald keine Börsencrashs mehr mitberücksichtigen werden und damit Gefahr laufen, Risiken systematisch zu unterschätzen. Auch hier erkennt man Ansätze einer Kontrollillusion.
Während der Internet-Blase vor rund zwanzig Jahren sprach man etwas despektierlich von der Hausfrauenhausse, heute stehen sinnbildlich die (männlichen) Robinhood-Trader im Fokus. Auch wenn jede Börsenphase ihre eigenen Gesetzmässigkeiten hat, sind zumindest gewisse Parallelen zur damaligen Masseneuphorie erkennbar. Damals versetzten Aktien wie Worldcom, Miracle oder Fantastic die Investoren in Entzücken. Heute sind es Tesla, Zalando oder die wilden Preissprünge der Kryptowährungen, die das Anlegerherz höher schlagen lassen. Der Anteil der Retail Trades im US-Aktienmarkt ist heute wie damals auf historischem Hoch. Entgegen der Wahrnehmung rund um GameStop ist der Anteil der leerverkauften Aktien seit Jahrzehnten nicht mehr so niedrig gewesen, obwohl der Anteil an verlustmachenden Unternehmen letztmals 1999 so hoch war. Die allgegenwärtige Alternativlosigkeit von Aktien mag begründen, warum die Preise von risikotragenden Anlagen steigen. Allerdings sinken die Risiken bei steigenden Preisen nicht. Die gleichen Risiken bei einem höheren Preis zu kaufen, war in der langen Frist selten ein besonders erfolgreiches Unterfangen.
Am Ende Schafe im Wolfsrudel
Welche Schlüsse werden aber nun die Marktteilnehmer selbst, also Welpen und Wölfe der Wallstreet, aus den aktuellen Ereignissen ableiten? Die extrem grosse Resonanz in der Medienberichterstattung zum GameStop- oder zum Bitcoin-Phänomen hinterlässt auf jeden Fall Spuren in der Gedankenwelt der Investoren. Wie auch immer man zum Thema der Leerverkäufer und der Robinhood-Trader steht, wie hoch man auch immer das Potenzial von Tesla-Aktien oder von Bitcoin einschätzt – das eigentliche Narrativ dieser Ereignisse könnte von den Marktteilnehmern vermehrt als Signal eines überhitzten Marktes gedeutet werden. Bewertungszweifel würden in der Folge gesät werden.
Fühlen sich viele als Wölfe der Wallstreet, ist Selbstüberschätzung im Spiel. Enden kann das damit, dass man sich als Schaf inmitten des Wolfsrudels wiederfindet. Welche Ironie der Geschichte wäre es, wenn gerade die Überhitzung rund um eine Aktie namens GameStop das Ende der aktuellen Marktphase einläuten würde.
Teodoro D. Cocca ist Professor für Wealth und Asset Management an der Johannes-Kepler-Universität in Linz und Adjunct Professor am Swiss Finance Institute.
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Welpen der Wallstreet
Die Schlagzeilen rund um Robinhood, GameStop oder Bitcoin deuten auf eine selbstbewusste neue Anlegergeneration hin, aber auch auf einen zunehmend überhitzten Markt. Ein Kommentar von Teodoro D. Cocca.