Die Entwicklungs- und Schwellenländer haben in den vergangenen fünfzehn Jahren grosse Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse verzeichnet. Diesen stehen Leistungsbilanzdefizite der USA gegenüber. Die Überschüsse erreichten 2008 ihr Höchst auf 676 Mrd. $ und betrugen 2012 immer noch beinahe 400 Mrd. $. Der grösste Anteil entfällt auf China und die ölproduzierenden Staaten des Nahen Ostens.
Aus Sicht der Zahlungsbilanz geht ein Leistungsbilanzüberschuss mit einem Nettoabfluss von Kapital einher, indem Inländer ausländische Aktiva erwerben. Dass das Kapital netto nicht von den reichen Ländern in die armen fliesst, sondern gerade umgekehrt, stellt die Fachwelt seit langem vor Rätsel, sollte es doch dorthin strömen, wo die höhere Rendite lockt. Und doch scheint es, dass es aus eben den Regionen flüchtet, die es eigentlich suchen sollte – Staaten mit einer hohen Produktivität und wachsender Produktion wie etwa China.
In einem 2005 erschienenen Artikel argumentierte der heutige Chef der US-Notenbank, Ben Bernanke, dieses Rätsels Lösung sei der Wunsch privater und öffentlicher Investoren in Schwellenländern nach Wertanlagen (sicheren Assets), die der unterentwickelte lokale Finanzmarkt nicht bieten könne. Unsere jüngsten Forschungsarbeiten («Growing Like China», American Economic Review 2011, mit Zheng Song und Kjetil Storesletten) bieten einen anderen Erklärungsansatz, der als verantwortlichen Faktor u. a. finanzielle Friktionen nennt, was besonders auf China zutrifft. Die dortigen Banken versagen, wenn es darum geht, Ressourcen von den Sparern zu lokalen privaten Unternehmen zu leiten, obwohl sie Zugang zu den besten Investitionsgelegenheiten haben.
Kreditvergabe ist verzerrt
Der Grund für diese Ineffizienz ist letztlich die marktdominierende Stellung der vier staatlichen Grossbanken, deren Kreditvergabestrategie massiv zugunsten der weniger produktiven – aber politisch gut vernetzten – staatseigenen Betriebe verzerrt ist. Dank entsprechender Regulierung und ihrer Marktmacht machen sie trotz fehlgeleiteter Kreditvergabepolitik Gewinn, indem sie Sparern auf Einlagen bloss mickrige Zinsen gewähren. Die Unternehmer sind für die Finanzierung auf ihr privates Vermögen oder auf Darlehen von Familie und Freunden angewiesen. Die Rationierung von Krediten für Unternehmen, gepaart mit der ausgeprägten Sparneigung der chinesischen Haushalte, hat eine wachsende Kluft zwischen inländischen Ersparnissen und Investitionen zur Folge. Diese Ersparnisschwemme ist auch der Grund für den Aufbau der riesigen Fremdwährungsreserven, meist in niedrig rentierenden Anlagen geparkt, die sich mittlerweile auf 3,5 Bio. $ belaufen.
Nun stehen Reformen an, die den Auftakt für grössere Umwälzungen bilden dürften: Peking erwägt, den Kapitalmarkt zu öffnen und den Yuan völlig konvertierbar zu machen. Bisher war China offen für Handel und ausländische Direktinvestitionen, Portfolioinvestitionen hingegen waren strikt reguliert. Chinesische Privatanleger können genauso wenig ausländische Wertschriften handeln, wie Ausländer Zugang zu Chinas Finanzmärkten haben. Die Ausnahme sind Qualified-Investors-Programme, die meist über Hongkong laufen. Sie sind jedoch, trotz der jüngsten Ausweitung, nach wie vor beschränkt: Per Ende 2012 belief sich der Zufluss ausländischer Investitionen im Rahmen der QI-Programme auf bloss 41 Mrd. $. Der Yuan ist nur für Handelsgeschäfte konvertierbar. In Yuan werden rund 14% des Aussenhandels abgewickelt.
Doch das wird sich ändern. Die Zentralbank (People’s Bank of China, PBoC) hat, mit Zustimmung des Staatsrats, die Aufgabe, den Kapitalmarkt bis 2015 ein Stück weit und bis 2020 vollständig zu liberalisieren. Was genau «ein Stück weit» bedeuten wird, ist noch unklar. Vermutlich werden die bestehenden Qualified-Investors-Programme schrittweise ausgeweitet. Ungeachtet der Details ist jedoch klar, dass die Reform weitreichende Auswirkungen hat.
Erstens wird China in die Lage versetzt, seine riesigen, derzeit schlecht investierten Vermögen besser zu verwalten, indem einheimische Anleger Portfolios ausländischer Assets halten dürfen. Hoch rentierende (entsprechend riskante) Positionen wie Portfolioanlagen oder Direktinvestitionen im Ausland machen heute nur 9% von Chinas Bruttopositionen aus, in den USA sind es 50%. Dieser statische Ansatz in der Verwaltung der wachsenden Vermögen hat in den vergangenen zehn Jahren beträchtliche Werteinbussen verursacht und einen bedeutenden Anteil der Ersparnisse vernichtet. Zweitens erhalten ausländische Investoren die Möglichkeit, Aktien und Anleihen chinesischer Unternehmen zu erwerben. Chinas Unternehmern eröffnen sich so neue Finanzierungsmöglichkeiten als Alternative zu den unwilligen einheimischen Banken.
Eine Öffnung der Kapitalmärkte wird also sicher die Bruttokapitalströme vergrössern. Wie aber steht es um die Nettoströme? Wird eher Zu- oder Abfluss die Folge sein? Laut gängiger Meinung ist der Yuan künstlich unterbewertet. Das spricht für einen massiven Zufluss ausländischen Kapitals nach China (in Erwartung einer Aufwertung), was gefährlichen Aufwärtsdruck auf die Währung zur Folge haben dürfte. Diese populäre Meinung ist grob vereinfachend und dürfte falsch sein. Seit 2005 hat sich der Yuan zu den bedeutenden Währungen deutlich aufgewertet, nominal und real. Gemäss einer neuen Studie der IWF-Forscher Bayoumi und Ohnsorge wird die Liberalisierung der Kapitalmärkte auf kurze Frist einen Nettoabfluss von Portfoliokapital aus China bewirken, da grosse Sparvermögen nach Diversifikation im Ausland suchen.
Die Liberalisierung des Kapitalmarktes eröffnet neue Gelegenheiten, birgt aber auch Risiken. Erstens belegen viele Studien, dass die Kombination aus offenem Kapitalmarkt und fixem Wechselkurs die Wahrscheinlichkeit destabilisierender Schwankungen der Kapitalzuflüsse in Schwellenländer erhöht. So könnte China eines Tages gezwungen sein, die Kontrolle über den Wechselkurs aufzugeben, was kaum nach dem Geschmack der PBoC sein dürfte. Zweitens könnten Portfolioinvestitionen die ausländischen Direktinvestitionen ersetzen. Letztere aber sind die attraktivere Form von Kapitalzuflüssen, da sie weniger volatil sind und zudem den Technologietransfer fördern.
Zuerst das Finanzsystem reformieren
Wird die Liberalisierung des Kapitalmarktes das Wachstum ankurbeln? Die Erfahrungen aus anderen Ländern sind gemischt. Dennoch lassen sich gewisse Muster erkennen. In Ländern mit wenig ausgeprägtem Anlegerschutz, schwacher Justiz und überregulierten lokalen Kreditmärkten scheitern Reformen häufig: Die Investoren zögern, sich langfristig zu engagieren, die Kapitalflüsse bleiben von spekulativen Elementen geprägt. In Staaten mit einem weiter entwickeltem Finanzsystem hingegen hat sich die Liberalisierung als nutzbringend erwiesen. Das legt nahe, dass China gut beraten wäre, sein Finanzsystem zu reformieren, bevor es die vollständige Öffnung des Kapitalmarktes in Angriff nimmt.
Wichtige Schritte sind in Vorbereitung. Bisher waren die Zinsen auf Spareinlagen und Kredite strikt reguliert: Den Banken war es verwehrt, mit guten Bedingungen um Sparer und Kreditnehmer zu konkurrieren. Jeglicher Wettbewerb war ausgeschaltet, was die Monopolmacht der vier grossen Banken festigte. Das ändert sich nun. Für Premier Li ist die Liberalisierung der Zinsen prioritär. Im Juli hat die PBoC die Untergrenze für die Kreditzinsen aufgehoben: Banken können mit günstigen Krediten um attraktive Unternehmen werben. Im August wurde die Liberalisierung der Zinsen auf Spareinlagen angekündigt, eine Änderung von grösserer Tragweite: Während der Wettbewerb über die Kreditzinsen nicht erfolgsentscheidend ist, bedeutet die Deckelung der Sparzinsen eine empfindliche Einschränkung, die es privaten Instituten verunmöglicht, mehr Marktanteile zu erobern. Die Reform des Finanzsystems ist eine der wichtigsten Herausforderungen Chinas. Sie kann eine Schlüsselrolle für die Belebung des Wachstums spielen, lange bevor der Kapitalverkehr geöffnet wird.
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Wenn China den Kapitalmarkt öffnet
Die geplante Liberalisierung des chinesischen Kapitalmarktes eröffnet Chancen und birgt auch Risiken. Ein Kommentar von Fabrizio Zilibotti.