Die türkische Wirtschaft steckt in der Krise. Die Inflation ist hoch und steigt weiter, das Wirtschaftswachstum stagniert, die Devisenreserven sind dramatisch geschmolzen, viele Güter sind knapp oder einfach nicht verfügbar, und die Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen verarmen zunehmend. Nachdem das Pro-Kopf-BIP von 12’600 $ im Jahr 2013 auf 8500 $ im Jahr 2020 fiel, präsentieren sich die wirtschaftlichen Aussichten für die 85 Mio. Einwohner der Türkei über den Grossteil eines Jahrzehnts düster.
Obwohl der Türkei weit weniger Aufmerksamkeit zuteil wird, als sie es verdienen würde, ist sie ein geopolitisch und wirtschaftlich bedeutendes Land, das an die EU, Russland und vier Länder des Nahen Ostens grenzt. Sie ist das einzige Nato-Mitglied mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit und verfügt nach den USA über die zweitgrössten Militärstreitkräfte des Bündnisses. Die Krise dieses Landes ist daher bis weit über seine Grenzen hinaus von Bedeutung.
Die Probleme der Türkei sind fast ausschliesslich hausgemacht. Die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat jahrelang die demokratischen Institutionen des Landes ausgehöhlt und Zwietracht in der Bevölkerung gesät, um den Aufstieg einer vereinten politischen Opposition zu unterdrücken. Dank der soliden Wirtschaftsleistung vergangener Jahre wurde Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in jedem Urnengang seit 2002 wiedergewählt. Doch dieser Rückhalt ist aufgrund der sich verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Situation drastisch geschwunden.
Makroökonomische Situation untragbar
Politisch unterstützt die Regierung Erdoğan zunehmend die Idee eines religiösen Staats, obwohl die Verfassung einen säkularen Staat vorschreibt und seit einem Putschversuch im Jahr 2016 werden Journalisten und politisch Andersdenkende gnadenlos unterdrückt.
Wirtschaftlich sieht es noch schlechter aus. Als sich das Wachstum Mitte der 2010er-Jahre abzuschwächen begann, reagierte Erdoğans Regierung mit der Förderung umfangreicher Infrastrukturinvestitionen und einer Aufforderung an die Banken, die Zinsen niedrig zu halten. Da diese Ausgaben jedoch aus externen Quellen finanziert wurden, sorgten sie für Inflationsdruck. 2017 erreichte die türkische Inflationsrate einen zweistelligen Wert und steigt seitdem weiter.
Die Türkei hatte also schon lange vor der Covid-19-Krise mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, und als die Pandemie ausbrach, wurde das Land schwer getroffen. Obwohl die höchst offensiven Konjunkturmassnahmen eine Rückkehr des Wirtschaftswachstums ermöglichten, ist die makroökonomische Situation untragbar geworden. Im vergangenen Herbst lag die Inflationsrate nach offiziellen Angaben bei 21%, doch vielerorts glaubt man, die tatsächliche Inflation liege noch höher. Marktbeobachter rechnen für die kommenden Monate mit einer Inflationsrate von 30% oder mehr. Kein Wunder also, dass ein beträchtlicher Teil der türkischen Bevölkerung mit einem starken Rückgang des realen (inflationsbereinigten) Einkommens zu kämpfen hat.
Kapitalflucht und massive Abwertung der Lira
Erschwerend kommt hinzu, dass Erdoğan seit langem Druck auf die Zentralbank ausübt, die Zinsen niedrig zu halten, weil er der hirnrissigen Theorie anhängt, hohe Zinsen seien der Grund für die Inflation. Jeder glaubwürdige Ökonom würde darauf hinweisen, dass zur Abkühlung der Inflation nicht niedrigere, sondern höhere Zinsen erforderlich sind. Erdoğan hält jedoch an seinem Irrglauben fest und hat in den vergangenen zwei Jahren dreimal den Gouverneur der Zentralbank ausgetauscht, um zu gewährleisten, dass die Währungsbehörde weiterhin nach seinen Vorstellungen handelt. So senkte der neue Zentralbankgouverneur am 16. Dezember die Zinsen um einen weiteren Prozentpunkt auf 14%, so dass der Realzinssatz nun bei –7% liegt.
Überdies haben viele der staatlichen Konjunkturmassnahmen den Anstieg der Inflation beschleunigt, ohne die reale Produktion anzukurbeln. Das führte zu Kapitalflucht und einer massiven Abwertung der türkischen Lira; 2021 hat sie 45% ihres Werts gegenüber dem US-Dollar eingebüsst. Nachdem die Reserven der Zentralbank rasch geschwunden waren, überstiegen ihre Brutto-Reserveverbindlichkeiten im März 2021 den Wert von 150 Mrd. $, während die Aktiva auf unter 90 Mrd. $ geschmolzen waren.
Da Erdoğan hartnäckig an seiner unorthodoxen Politik festhält, kommt es immer häufiger zu Versorgungsengpässen, wodurch sich manche Staatsbetriebe zu Anstrengungen in Richtung Preiskontrolle veranlasst sehen. Die zunehmenden Defizite staatlicher Unternehmen erhöhen jedoch die Haushaltsdefizite und verstärken damit den Inflationsdruck.
Stabilität des Landes gefährdet
Angesichts des rasanten Preiswachstums werden die Reallöhne 2021 in Dollar gerechnet 27% gefallen sein, während die sich verschärfenden Knappheiten den Lebensstandard der Menschen weiter untergraben. Um den Schaden zu kompensieren, hat die Regierung nun ab 1. Januar 2022 eine Erhöhung des Mindestlohns um 50% verfügt. Damit wird jedoch nur noch weiter Öl in das Inflationsfeuer gegossen.
Mit einer Kursänderung in Richtung geldpolitische Straffung und andere Reformen zur Senkung des Haushaltsdefizits und des Inflationsdrucks – wie etwa durch die Aufhebung der Preiskontrollen (besonders bei staatlichen Unternehmen) – könnte die türkische Regierung das von ihr verursachte Ausbluten der Wirtschaft noch immer stoppen. Doch solange Erdoğan den Ton angibt und auf seinem aktuellen Kurs beharrt, werden sich die Aussichten für die türkische Wirtschaft und das Wohlergehen der türkischen Haushalte weiter verdüstern. Die Auswirkungen auf die Stabilität eines strategisch derart bedeutenden Landes könnten unübersehbar werden.
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Wie «Erdonomics» die Türkei ruiniert
Solange Staatschef Erdoğan auf seinem Kurs beharrt, verdüstern sich die Aussichten für die Wirtschaft und das Wohlergehen der Haushalte weiter. Ein Kommentar von Anne O. Krueger.