«Wir brauchen mehr Inflation»
Der Berkeley-Ökonom Barry Eichengreen fordert im Interview mit «Finanz und Wirtschaft» eine expansivere Geldpolitik und mehr Stimulusmassnahmen von Deutschland.

Kaum ein Wirtschaftsgelehrter hat sich intensiver mit der Grossen Depression der Dreissigerjahre befasst als Barry Eichengreen. Der an der University of California in Berkeley lehrende Ökonomieprofessor ist überzeugt, dass weite Teile der Weltwirtschaft immer noch absturzgefährdet sind und die Notenbanken daher weiterhin eine ausgesprochen expansive Geldpolitik betreiben müssen. Wie sein Kollege Kenneth Rogoff von der Harvard University ( lesen Sie hier das Interview mit Rogoff ) warnt Eichengreen davor, die Eurokrise bereits als beendet zu betrachten.
Herr Eichengreen, von verschiedenen Seiten war in den vergangenen Wochen die Warnung vor einem globalen Währungskrieg zu hören. Machen Sie sich Sorgen? - Wenn das, was wir heute sehen, ein Währungskrieg ist, dann kann ich nur sagen: Gut so, wir brauchen mehr davon. Die Zentralbanken müssen alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um die schwache Erholung der Wirtschaft zu unterstützen.
Die Bank of Japan hat mit ihrer Ankündigung vor zwei Wochen, ihr Anleihenkaufprogramm auszuweiten, also das Richtige getan? - Ja. Während Jahren ist es der BoJ nicht gelungen, etwas Inflation zu schaffen. Wenn sie sich jetzt ein festes Inflationsziel von 2% setzt, sollte sie dafür gelobt werden. Allerdings war die Ankündigung zu zahm, stellte die BoJ doch bloss in Aussicht, das Programm irgendwann im nächsten Jahr zu starten. Glaubwürdiger wäre es, eine Strategie anzukündigen und gleich mit der Umsetzung zu beginnen. In Japan ist die Deflationsgefahr immer noch gross.
Wie sieht es mit anderen Volkswirtschaften aus? Benötigen die wirklich auch noch die Anschubhilfe der Geldpolitik? - Grossbritannien auf jeden Fall, weil die dortige Wirtschaft wegen der Sparpolitik der Regierung immer wieder in die Rezession sackt. Auch in den USA ist es richtig, dass das Fed nach Kräften den anämischen Aufschwung unterstützt und versucht, die hohe Arbeitslosenrate zu senken. Die Einzige unter den wichtigen Notenbanken, die zu wenig unternimmt, ist die EZB. Das wird die europäische Wirtschaft zu spüren bekommen, denn der Euro hat sich in den letzten sechs Monaten handelsgewichtet um 7% aufgewertet. Die Rezession in Europa wird sich verschärfen.
Was soll das denn bringen, wenn jeder versucht, seine Währung auf Kosten der anderen abzuwerten? - Die heutige Situation ist vergleichbar mit den frühen Dreissigerjahren, als ein Land nach dem anderen den Goldstandard verliess und seine Währung abwertete. Das war in der Summe nützlich, denn die Abwertungen kamen auf globaler Basis einem massiven geldpolitischen Stimulus gleich – und dieser trug massgeblich dazu bei, die Weltwirtschaft endlich aus der Depression zu hieven. Problematischer war damals das Verhalten Frankreichs und Deutschlands, die länger am Goldstandard festhielten und ihre Wirtschaft mit Handelsschranken und Kapitalverkehrskontrollen zu schützen versuchten.
Dann ist es in Ihren Augen auch in Ordnung, dass die Schweizerische Nationalbank die heimische Wirtschaft vor einer Aufwertung des Frankens schützt? - Jeder, der in der Schweiz einen Kaffee bestellt, muss die Hypothese verwerfen, dass der Franken unterbewertet ist. Die Einführung der Eurountergrenze war der richtige Schritt.
Auch wenn die Schweiz, wie im Ausland ab und zu kritisiert wurde, einen beträchtlichen Überschuss in der Leistungsbilanz schreibt? - Ja, der Saldo der Leistungsbilanz ist nicht unbedingt ein Indikator für eine über- oder unterbewertete Währung. Davon abgesehen ist es für die Weltwirtschaft kaum ein Problem, wenn eine kleine Volkswirtschaft wie die Schweiz Handelsüberschüsse erwirtschaftet.
Kommen wir nochmals zur Grossen Depression. 1937 fiel die US-Wirtschaft zurück in die Rezession, als die geld- und fiskalpolitischen Zügel angezogen wurden. Droht das auch heute? - Die Gefahr besteht. 1937 fuhr der amerikanische Staat seine Stimulusausgaben zurück, und die Steuern wurden erhöht, um das Budget auszugleichen. Gleichzeitig normalisierte das Fed seine Geldpolitik, und dieser Doppeleffekt drückte die zu diesem Zeitpunkt immer noch schwache Wirtschaft abermals in eine zähe Rezession. Heute wird die Fiskalpolitik in vielen Ländern wieder restriktiv, genau deshalb muss die Geldpolitik so expansiv wie möglich bleiben. Sonst misslingt die Reflationierung der Wirtschaft.
Im Kern sind Sie also der Meinung, die Notenbanken sollten über einen längeren Zeitraum ein Umfeld mit etwas erhöhter Inflation schaffen? - Genau. Das ist der zielführendste Weg, das Problem des Schuldenüberhangs zu bekämpfen. Wenn das Verhältnis von Schulden zu Bruttoinlandprodukt zu hoch ist, können Sie entweder versuchen, die Schulden zu senken, oder aber, das nominelle BIP zu erhöhen. Eine etwas erhöhte Inflationsrate erfüllt genau letzteren Zweck. Einige Jahre mit 4% Inflation wären nicht schlecht.
Das klingt nach einem Spiel mit dem Feuer. - Wieso? Wer sagt, dass nach 4% die Teuerungsrate ausser Kontrolle gerät und die nächste Station 40 oder 400% Inflation heisst? Die Notenbanken haben sich über die Jahre in harter Arbeit Glaubwürdigkeit aufgebaut: Die Märkte vertrauen ihnen, dass sie die Preisstabilität wahren werden. Dieses Glaubwürdigkeitsguthaben müssen sie jetzt anzapfen. Sobald die Wirtschaft wieder Tritt gefasst hat und die Schulden in Relation zum BIP auf ein verträgliches Mass gesunken sind, können die Notenbanken wieder bremsen.
Es ist also eine Wette darauf, dass sie ihre expansive Geldpolitik genau rechtzeitig zurückfahren können? - Ja. Angesichts der aktuellen Situation würde ich sagen, es ist es wert, diese Wette einzugehen.
Kennen Sie ein historisches Beispiel, das zeigt, dass das einer Notenbank gelingen kann? - In Skandinavien in den frühen Neunzigerjahren hat es gut funktioniert. Einen exakten Präzedenzfall für die heutige Situation gibt es allerdings nicht, denn wir stehen im Nachgang der schwersten Weltwirtschaftskrise seit 75 Jahren.
Wie steht es denn mit der Unabhängigkeit der Notenbanken? Werden sie nicht mehr und mehr für politische Zwecke eingespannt? - Wir müssen uns daran erinnern, worum es beim Thema Unabhängigkeit der Notenbank eigentlich geht. Sie bedeutet, dass die Zentralbank volle Freiheit in der Wahl der Strategie haben muss, wie sie ihr Mandat – das sie von den gewählten Vertretern der Bevölkerung erhalten hat – erfüllen soll. Für die EZB heisst das Mandat Preisstabilität und Wahrung der Integrität des Finanzsystems, in den USA kommt als Mandat auch die Vollbeschäftigung hinzu. Unabhängigkeit heisst, dass die Politiker nicht dreinreden, wenn die Zentralbank ihre Strategie ausspielt, um ihr Mandat zu erfüllen. Sollte jemand mit dem Mandat nicht zufrieden sein, kann er versuchen, es auf politischem Weg zu ändern.
Aber Sie können nachvollziehen, dass die Perspektive von erhöhter Inflation vielen Leuten, nicht zuletzt in Deutschland, Angst bereitet? - Natürlich. In Deutschland sitzt die Erinnerung an die Hyperinflation in den frühen Zwanzigerjahren tief. Dennoch wundere ich mich über die bisweilen sehr selektive historische Wahrnehmung. Die Weimarer Republik durchlebte schliesslich nicht nur eine Hyperinflation, sondern in den frühen Dreissigern auch eine Depression, die von harter Austeritätspolitik und Arbeitslosenraten von über 20% begleitet wurde. Das war die Zeit, als die Nationalsozialisten an die Macht gelangten.
In Europa unterziehen sich die südlichen Peripherieländer derweil einem Reform- und Austeritätsprogramm. Sehen Sie Zeichen, dass das zum Erfolg führt? - Ein wenig, ja. Eine interne Abwertung findet statt. Die Lohnstückkosten sinken leicht, die Leistungsbilanzdefizite haben sich zum Teil deutlich verringert. Die Anpassung ist aber viel zu wenig weit fortgeschritten, denn die Verbesserungen in der Leistungsbilanz erklären sich hauptsächlich damit, dass als Folge der Rezession die Importnachfrage in diesen Ländern weggebrochen ist. Das bisschen interne Abwertung ist für Länder wie Spanien mit massiven Langzeitkosten, etwa der horrenden Jugendarbeitslosigkeit, verbunden. Europa braucht dringend eine wirtschaftspolitische Diskussion, die nicht nur die Gefahren von Inflation, sondern auch die Gefahren hartnäckig hoher Arbeitslosigkeit thematisiert. Diese wirkt korrosiv auf das soziale Gefüge in einem Land. Wie erwähnt sollte Deutschland dies aus eigener Erfahrung kennen.
Wo stehen wir denn heute in der Verarbeitung der Eurokrise? - Die EZB hat mit ihrem im vergangenen Sommer angekündigten OMT-Programm (Outright Monetary Transactions, Anm. d. Red.) die Finanzmärkte kräftig beruhigt. Sie hat damit aber nur Zeit gekauft für die Politiker, die grundlegenden Probleme der Währungsunion zu lösen. Wie schon so oft verschwenden sie jetzt diese Zeit, weil sich alle selbst auf die Schulter klopfen und meinen, die Eurokrise sei vorbei – was sie ganz und gar nicht ist.
Was müsste jetzt konkret geschehen? - Die Eurozone braucht dringend eine Bankenunion, um die schädliche Verbindung zwischen der Solvenz der Staaten und der Solvenz der Banken zu kappen. Zweitens ist eine limitierte Form von Fiskalunion nötig, um die Bankenunion zu finanzieren. Drittens braucht es etwas Wirtschaftswachstum, damit Italien, Spanien und Portugal nicht in der Depression versinken.
Wie soll das gehen? - Spaniens Premier hat kürzlich gebeten, Nordeuropa solle seinen Teil dazu beitragen, die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen innerhalb der Eurozone zu beheben. Er hat recht; der Anpassungsprozess kann nicht allein auf den Schultern der Peripheriestaaten lasten. Deutschland könnte mehr tun, um seine Binnenkonjunktur anzukurbeln.
Sie haben bis jetzt Griechenland noch gar nicht erwähnt. Wird es aus der Eurozone austreten müssen? - Nein. Der Verbleib in der Eurozone ist kostspielig und schmerzhaft für die Griechen, aber ein Austritt ist noch kostspieliger und schmerzhafter. Es ist allerdings völlig klar, dass Griechenland noch viel Finanzhilfe von der EU, der EZB und dem IWF benötigen wird. Ich warte immer noch auf einen echten Marshall-Plan für Griechenland – einen, der berücksichtigt, dass das Land tatkräftige Hilfe von französischen und deutschen Banken erhalten hat, um überhaupt in ein Schlamassel dieses Ausmasses zu geraten.
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