Die Welt leidet unter einem Mangel an nachhaltiger, kräftiger Nachfrage. In den vergangenen zwanzig Jahren hat die Einkommensungleichheit in zahlreichen Staaten ein kaum je gesehenes Ausmass erreicht. Zudem haben einige Länder, in erster Linie China und Deutschland, in derselben Periode die Beschäftigung durch Zurückhaltung bei den Löhnen angekurbelt, sodass die Haushaltseinkommen deutlich weniger gewachsen sind als das Bruttoinlandprodukt (BIP).
Diese beiden Faktoren – wachsende Einkommensungleichheit und der Umstand, dass den Haushalten ein immer kleinerer Anteil des Bruttoinlandprodukts zur Verfügung verbleibt – haben sich in gleicher Weise auf die Nachfrage ausgewirkt: Die Reichen sparen einen grösseren Teil ihres Geldes als die Armen, und Haushalte konsumieren einen grösseren Anteil ihres Einkommens als Unternehmen oder der Staat. Beides hat, anders ausgedrückt, zur Folge, dass der Konsum einen immer kleineren Anteil am BIP ausmacht respektive dass der Anteil der Ersparnisse am BIP steigt.
Lange Zeit liess sich diese Entwicklung verschleiern. Als die weltweiten Ersparnisse schneller zunahmen, als sich Gelegenheiten für produktive Investitionen eröffneten, strömten die überschüssigen Ersparnisse an die Aktien- und die Immobilienmärkte weltweit und trieben sie in die Höhe. In einem Umfeld steigender Märkte fühlen sich Menschen reicher, und so gab sich Otto Normalverbraucher – vor allem in den USA und europäischen Ländern wie Grossbritannien, Spanien oder Irland – voller Euphorie über den Millionenwert seines Hauses freudig dem auf Pump finanzierten Konsumrausch hin.
Täuschung in den Schwellenländern
So funktionierte die Welt in den Jahren vor 2007. Angebot und Nachfrage haben sich ausbalanciert: Die höheren Ersparnisse und der geringere Konsum, die sich automatisch einstellten, als der den Haushalten zur Verfügung stehende Anteil am Bruttoinlandprodukt schrumpfte, wurden durch den schuldenfinanzierten Konsum im Zuge rasant steigender Vermögenspreise kompensiert. Der globale Konsum blieb hoch und die Arbeitslosigkeit niedrig – oberflächlich betrachtet war demnach alles im Lot. Doch die negativen Effekte der wachsenden Einkommensungleichheit wurden lediglich von der stetig steigenden privaten Verschuldung überdeckt.
So konnte es nicht ewig weitergehen. In den Jahren 2007/2008 wurde die Verschuldung selbst zum Problem. Die Menschen waren nicht mehr gewillt oder nicht mehr in der Lage, alles zu kaufen, was aus den Fabriken rund um den Globus strömte. Wenn die Konsumenten sich aber nicht mehr unbekümmert verschulden, lassen sich Angebot und Nachfrage nur ausbalancieren, indem weniger produziert wird – was wiederum die Schliessung von Fabriken und den Abbau von Stellen bedeutet.
Genau das ist in der westlichen Welt nach 2008 eingetreten: Der Konsum ging drastisch zurück, die aggregierte Nachfrage brach ein, die Industrieproduktion sank, und die Arbeitslosenquoten stiegen in zahlreichen Ländern auf das höchste Niveau der Nachkriegszeit. Pikanterweise nahm die Entwicklung in den meisten Schwellenländern derweil einen anderen Verlauf: Nach der Überwindung des ersten Schocks im Spätherbst 2008 fanden sie rasch zu ansehnlichen Wachstumsraten zurück. Sie schienen – endlich – immun gegen die Krise der Industrieländer geworden zu sein. Leider zeigt sich nun aber, dass das eine Täuschung war: Auch die Schwellenländer sind in den vergangenen Jahren einem von Krediten finanzierten Kaufrausch verfallen, der nicht ewig anhalten konnte.
Billiges Kapital und riesige Mengen an überschüssigen Ersparnissen trieben lokale Investitionen in Ländern wie China und Brasilien an: Werften wurden gebaut, Produktionskapazitäten aufgestockt, Minenanlagen errichtet und leerstehende Apartmenthäuser hochgezogen. Damit wurden zwar Stellen geschaffen, allerdings nur indem weitere ungenutzte Kapazitäten aufgebaut wurden.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir dieses Muster beobachten konnten. Ähnlich war es zum Beispiel Mitte der Siebzigerjahre abgelaufen: Der Westen stürzte damals in eine tiefe Rezession, Lateinamerika hingegen gelang es, jegliche Verlangsamung der Wirtschaft zu vermeiden. Unter näherer Betrachtung war es klar, dass das nur möglich war, weil die riesigen Mengen an Petrodollars aus den ölproduzierenden Opec-Staaten grosszügige billige Kredite an die lateinamerikanischen Regierungen speisten, die begierig waren, die Wachstumsraten hoch zu halten.
Anfang der Achtzigerjahre allerdings, als man realisierte, dass die Verschuldung zu hoch geworden war, versiegten die Geldströme. Auf einmal musste Lateinamerika mit der tieferen Nachfrage aus den USA und Europa zurechtkommen, ohne sich auf steigende Investitionen im Inland stützen zu können. Mehr noch: Es galt, mit der Rückzahlung der Schulden zu beginnen. Das war der Auftakt zu Lateinamerikas «verlorenem Jahrzehnt».
Heute sieht sich die Welt mit einer ähnlichen Konstellation konfrontiert. Die Schwellenländer haben sich hoch verschuldet, um die Investitionen anzukurbeln. Doch weil der Konsum weltweit schwächelt, resultieren diese Investitionen bloss in enormen Überkapazitäten in Produktion, Bergbau und Infrastruktur. Die Schwellenländer sehen sich, wie schon in den Achtzigerjahren, mit der verheerenden Kombination von geringerem Verbrauch in den reichen Ländern und steigender Verschuldung im Inland konfrontiert. Hierbei ist es wichtig, in der Analyse nicht nur das Niveau der öffentlichen Schulden zu betrachten – das in vielen Emerging Markets noch niedrig ist –, sondern auch die Verschuldung im privaten Sektor der Unternehmen und der Haushalte.
Das Problem zu hoher Ersparnisse
Die Krise, die 2007 begonnen hat, ist noch nicht vorbei. Wir sind bloss in die nächste Phase eingetreten, von der, wie in den Achtzigerjahren, die ärmeren Länder stärker betroffen sein werden als die reichen.
Damit die Weltwirtschaft zu höherem Wachstum zurückkehren kann, braucht es zweierlei. Erstens müssen Länder wie Deutschland und China dafür sorgen, dass den privaten Haushalten wieder ein grösserer Anteil des BIP zur Verfügung verbleibt. Zweitens muss die gesamte Welt – vor allem aber die USA, Deutschland und China – etwas unternehmen, um der Einkommensungleichheit Einhalt zu gebieten. Beides wird die Ersparnisse dämpfen und den Konsum ankurbeln.
Was ist falsch an zu hohen Ersparnissen? Gemeinhin wird angenommen, hohe Ersparnisse in einer Volkswirtschaft seien eine Tugend, die es zu loben gilt. Das ist eine Fehleinschätzung. Denn wenn zu wenig Möglichkeiten für produktive Investitionen im Inland bestehen, fliessen Überschuss-Ersparnisse bloss in unproduktive, spekulative Investitionen im In- oder Ausland – und in der Regel muss dieser Verschleiss an Kapitalressourcen früher oder später abgeschrieben werden. Ein Beispiel dafür sind die Überschuss-Ersparnisse in Deutschland, die in den Jahren vor 2007 in allerlei unproduktive Investments im spanischen Immobilienmarkt flossen.
Mit weniger Ersparnissen verringert sich auch die Menge an spekulativem Kapital, das in eine Weltregion nach der anderen strömt, dort zu steigender Verschuldung führt und die Bilanzen destabilisiert. Ein anziehender Konsum wird die Nachfrage nicht nur direkt stimulieren, sondern auch indirekt, weil die Rentabilität produktiver Investitionen steigt.
Ein Stolperstein ist die Politik. Amerikanische Banker, lokale Potentaten in China, deutsche Unternehmer und die Vermögenden dieser Welt haben enorm von den langen Jahren unausgeglichenen Wachstums profitiert. Sie haben genug Macht, um ein Rebalancing zu verhindern, und sie werden sie wohl auch nutzen. Doch ohne ein Rebalancing der Einnahmen lassen sich Angebot und Nachfrage nur in Einklang bringen, indem entweder weltweit die Arbeitslosigkeit hoch gehalten oder der Anstieg der privaten Verschuldung von neuem befeuert wird. Beides sind ungemütliche Aussichten.
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Die weltweit steigende Ungleichheit hat zu Überschuss-Ersparnissen geführt und unproduktive Investitionen begünstigt. Damit rückt der Fokus der Finanzkrise in die Schwellenländer. Ein Kommentar von Michael Pettis.