Der starke Franken, die niedrige Inflationsrate und niedrige Zinsen galten einst als positive Standortfaktoren der Schweiz. Heute, so scheint es, hat sich das geändert. Man klagt über den hohen Aussenwert der heimischen Währung und wünscht sich mehr Geldentwertung und höhere Renditen. Ähnliches vernimmt man aus Währungsräumen ausserhalb der Schweiz. Dabei entsteht der Eindruck, das gegenwärtige monetäre Umfeld benachteilige die Mehrheit der Bevölkerung, und drastische Gegenmassnahmen seien daher dringend geboten. Doch die Situation ist komplizierter.
Niedrige Inflation und damit einhergehend niedrige Zinsen haben Vorteile: Niedrige Nominalzinsen senken die Kosten der Geldhaltung und wirken sich positiv auf die Finanzstabilität aus. Gemäss einer berühmten Regel, die nach dem Nobelpreisträger Milton Friedman benannt ist, liegt das ideale Zinsniveau bei null; bei positiven Realzinsen bedingt dies eine geringfügige Deflation. Doch niedrige oder gar negative Teuerung birgt auch Gefahren.
In der derzeitigen Situation ergeben sie sich nicht so sehr aus der niedrigen Inflationsrate an sich als vielmehr aus dem Verfehlen der von den Notenbanken beschworenen Inflationsziele, die in der Regel bei rund 2% pro Jahr liegen. Ungeachtet mancher Schreckensszenarien besteht zwar nirgends das Risiko einer unmittelbar drohenden Spirale aus Deflationserwartungen und (bei rigiden Löhnen und Preisen) daraus resultierenden Konsum- und Investitionsverzichts.
Doch das gegenwärtige Umfeld birgt die Gefahr, dass Zentralbanken ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Sollten die Inflationserwartungen in der Wirtschaft infolge niedriger Teuerung nachhaltig fallen, könnte dies die Möglichkeiten der Notenbanken zur Beeinflussung von Konjunktur und Inflation einschränken. Insbesondere würde es bei der nächsten Rezession den Spielraum für Zinssenkungen schmälern.
Niedrige Inflation birgt Risiken
Eine weitere zentrale Gefahr des Verfehlens von Inflationszielen besteht in der Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern beziehungsweise ihren Folgen. Eine länger dauernde Phase unerwartet niedriger Inflationsraten hat zur Konsequenz, dass Schuldner, deren Verbindlichkeiten nicht inflationsindexiert sind, unter einer zunehmend drückenden Schuldenlast leiden, während ihre Gläubiger Kapitalgewinne erzielen. Die damit verbundene Umverteilung von Vermögen kann die Nachfrage schwächen, zum Beispiel weil Schuldner mehr konsumieren oder eine höhere Investitionsneigung haben, und sie kann zu direkten volkswirtschaftlichen Verlusten führen, wenn sie produktive Betriebe infolge von Überschuldung in den Konkurs treibt.
Um die Grössenordnung der möglichen Umverteilung zu veranschaulichen, bietet sich ein einfaches Rechenbeispiel an. Angenommen, Gläubiger streben eine jährliche risikofreie Realverzinsung von 2% an, und die Inflationserwartungen zum Zeitpunkt der Emission einer Anleihe liegen ebenfalls bei 2%. Die Rendite der Anleihe zum Emissionszeitpunkt stellt sich dann bei rund 4% ein. Fällt die Inflation unter das erwartete Niveau, zum Beispiel auf null, dann entschädigen die Couponzahlungen die Investoren für Geldentwertung, die gar nicht im erwarteten Ausmass stattgefunden hat. Die effektive Realverzinsung liegt daher über den ursprünglichen Erwartungen.
Der resultierende Kapitalgewinn ist proportional zur Differenz von erwarteter und effektiver Inflation. Bei einer Anleihe mit einjähriger Laufzeit entspricht er rund 2% der Anlagesumme. Bei längeren Laufzeiten steigt er auf wesentlich höhere Werte. Anleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren profitieren von einem Kapitalgewinn von rund 18%, und im Extremfall einer Anleihe mit ewiger Laufzeit beträgt der Kapitalgewinn 100% des Anlagewerts. Eine sehr lange Phase unerwartet geringer Inflation hat also zur Folge, dass Schuldner mit langfristigen Verbindlichkeiten ihre ursprüngliche Schuld effektiv bis zu zweifach abtragen müssen.
Die häufig zu vernehmende Klage, dass Investoren die Leidtragenden des derzeit niedrigen Zinsniveaus seien, ist in dieser undifferenzierten Form nicht haltbar. Anleger, die festverzinsliche Wertpapiere kauften, als die Inflationserwartungen über den später realisierten Werten lagen, profitierten vielmehr von einem Kapitalgewinn oder profitieren noch immer davon. Ihren Gewinnen stehen Verluste aufseiten der Gläubiger gegenüber. Die Verlierer des gegenwärtigen Niedrigzinsumfelds sind allenfalls Neuinvestoren – Sparer. Selbst sie sind aber nicht so stark betroffen, wie ein Blick auf die Entwicklung der Nominalzinsen dies vermuten lassen würde. Denn aufgrund des Rückgangs der Inflationsraten sind die Realzinsen in den letzten Jahren deutlich weniger stark eingebrochen als die Nominalzinsen.
Auch Staatshaushalte profitieren entgegen der landläufigen Meinung nicht uneingeschränkt vom Niedrigzinsumfeld. Denn zum einen gewinnen langlaufende Staatsanleihen aufgrund der unerwartet niedrigen Teuerung wie beschrieben an Wert, und dadurch erhöht sich die Schuldenquote inflationsbereinigt. Zum anderen hat das niedrige Inflations- und Zinsniveau zur Konsequenz, dass die effektive Besteuerung von Kapitaleinkommen zumeist fällt. Bei einer realen Rendite vor Steuern von 2% und einer Inflationsrate von ebenfalls 2% führt ein Kapitaleinkommenssteuersatz in Höhe von 25% zu einer effektiven Realverzinsung von rund 1% – der Steuersatz beträgt faktisch also das Doppelte des ausgewiesenen Werts.
Fällt die Inflation hingegen auf null, dann reduziert sich der reale Steuersatz auf die ausgewiesenen 25%, und die Steuerzahler werden im Ergebnis entlastet. Der gegenteilige Effekt stellt sich ein, wenn eine fiktive, nicht inflationsindexierte Rendite zur Berechnung der Steuerbasis herangezogen wird, wie dies beispielsweise in Liechtenstein der Fall ist.
Die Unterscheidung von nominalen und realen Werten ist zentral für die Bewertung der volkswirtschaftlichen Lage und der sich daraus ergebenden Politikoptionen. Dies gilt nicht zuletzt hinsichtlich des Wechselkurses. Der nominale Wechselkurs ist nahezu bedeutungslos. Im Prinzip lässt er sich relativ einfach manipulieren – mit einer Währungsreform. Durch die Umwandlung von, sagen wir, einem Franken in zwei «Neue Franken» liessen sich in Kürze ein Europreis von etwa 2.20 Fr. und eine Verdoppelung des Schweizer Preisniveaus erreichen.
Realer Wechselkurs ist nicht zu steuern
Doch gewonnen wäre damit nichts, denn die Währungsreform bliebe ohne Auswirkung auf die relativen Preise und insbesondere auf den realen, um Kaufkraftunterschiede bereinigten Wechselkurs. Gerade Letzterer aber ist es, der den Schweizer Exporteuren das Leben momentan in dem Masse erschwert, wie es vor zehn Jahren der schwache Franken für die Importeure tat.
Wer den realen Wechselkurs verändern möchte, der muss den in heimischen Gütern und Dienstleistungen gemessenen Wert der Währung von dem in Devisen gemessenen Wert entkoppeln. Ersterer spiegelt das allgemeine Preisniveau, die Entwicklung des Letzteren reflektiert Zins- und Kaufkraftunterschiede zwischen dem In- und dem Ausland. Diese Faktoren sind aufs Engste miteinander verknüpft, und die Geldpolitik kann den realen Wechselkurs daher langfristig nicht steuern. Kurzfristig kann sie ihn manipulieren, aber nur so lange, bis sich alle Preise an die neuen Gegebenheiten angepasst haben. Im Verlauf dieses Anpassungsprozesses gibt es Gewinner und Verlierer. Auch eine auf die Beeinflussung des Wechselkurses ausgerichtete Geldpolitik hat deshalb Verteilungswirkungen.
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Zinsen, Inflation und Realismus
Die häufig zu vernehmende Klage, dass Investoren unter den niedrigen Zinsen leiden, ist so undifferenziert nicht haltbar. Und Staatshaushalte profitieren nicht uneingeschränkt davon.