China hat jüngst viel internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Stichworte sind etwa die zunehmend aggressive Haltung gegenüber Taiwan, die aussergewöhnliche dritte Amtszeit von Präsident Xi Jinping oder die strikte Null-Covid-Politik bzw. ihre Lockerung. Zweifellos wird dem Land auch in näherer Zukunft ein Platz im globalen Rampenlicht sicher sein, dies nicht nur wegen politischer, sondern auch wegen bedeutsamer wirtschaftlicher Entwicklungen.
Wie das Magazin «The Economist» schon vor einiger Zeit bemerkte, nähert sich China nach dem WTO-Beitritt von 2001 einer weiteren international symbolträchtigen Wegmarke. Fällt im kommenden Jahr die wirtschaftliche Erholung kräftig aus, könnte das Pro-Kopf-Einkommen 2023 zum ersten Mal überhaupt ein Niveau erreichen, das China gemäss Weltbankdefinition zu einem High Income Country macht. Dieses Aufrücken in die höchste Einkommenskategorie wäre eine Leistung, die ihresgleichen sucht. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen gehörte China nämlich noch Ende der Achtzigerjahre, als die Weltbank ihre gegenwärtige Kategorisierung eingeführt hatte, zur Kategorie der Low Income Countries, zu den absolut ärmsten Ländern der Welt.
Eine detaillierte Analyse zeigt weiter, dass seit den Achtzigerjahren kein einziges Land die lange Reise von der niedrigsten zur höchsten Einkommenskategorie aus eigener Kraft geschafft hat. Nun steht also mit China das bevölkerungsreichste Land der Welt, ein ökonomischer Koloss, kurz vor diesem Erfolg. Anlass genug für einen Blick zurück – und natürlich in die Zukunft.
Gewaltige Transformation
Chinas lange Reise begann 1978 nach dem Ende der desaströsen Regentschaft Maos. Erste markwirtschaftliche Reformen unter Deng Xiaoping führten zunächst zu einer langsamen Verbesserung. Mit dem Übergang zur (gemäss Parteiduktus) «sozialistischen Marktwirtschaft» und im Zuge der zunehmenden globalen Integration in den Neunzigerjahren nahm der ökonomische Aufstieg an Fahrt auf und transformierte das Land fundamental. Freilich entstanden auch neue Probleme – etwa die grosse Ungleichheit oder negative Umweltfolgen. Aber die extreme Armut, in den ersten Jahren nach Maos Tod noch eine allgegenwärtige Plage, ist heute dramatisch weniger verbreitet, die Lebenserwartung ist elf Jahre gestiegen.
«Der Wettbewerb der Ideen, der innovativen Technologien, Produkten und Businessmodellen zugrunde liegt, ist ein inhärent langsamerer Vorgang, der im Vergleich zum stürmischen Aufholprozess mit einem flacheren Wachstumspfad einhergeht.»
Was oft etwas in den Hintergrund tritt: Auch für den Westen war der Aufstieg Chinas eine transformative Kraft sondergleichen. Zum einen wurden bis vor kurzem immer grössere Teile der westlichen Industrieproduktion ins kostengünstige China verlagert. Dieses Offshoring hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Westen in den Genuss einer ungewöhnlich langen Periode mit niedriger Inflation kam. Zum anderen übernahm China die Rolle einer globalen Wachstumslokomotive. Eine neue Schicht von chinesischen Vermögenden, aber auch die Entstehung einer breiten Mittelklasse eröffnete für Teile der westlichen Wirtschaft enorme Exportopportunitäten. Man denke etwa an die Automobilindustrie in Deutschland oder die Luxusgüterindustrie in der Schweiz. Nicht zuletzt ist den USA mit China ein Rivale um die militärische – und teilweise auch die technologische – Vorherrschaft erwachsen.
Wohin führt Chinas Reise nach dem baldigen Erreichen der symbolträchtigen Wegmarke? Werden mittelfristig ähnlich hohe Wachstumsraten wie in der Vergangenheit die nach wie vor vorhandenen Einkommensdifferenzen zum Westen zusehends einebnen? Oder geht dem schnellen Aufstieg nach über vier Dekaden demnächst der Schnauf aus? Zweifellos ist der zukünftige Pfad Chinas von enormer Bedeutung. Natürlich nicht nur für das Land selbst, sondern auch für Amerika und Europa: Entgegen der Rhetorik des Decoupling nimmt der Handel mit China nach wie vor ein gigantisches Ausmass an, auf stabilem Niveau im Fall der USA, mit steigender Tendenz im Fall der EU.
Aufholwachstum vorüber
Aus heutiger Sicht gibt es gute Gründe für Skepsis in Bezug auf Chinas mittelfristigen Wachstumspfad. Sie sind allgemeiner, aber auch spezifisch chinesischer Natur. Zu Ersteren gehört, dass sich die Quellen des Wachstums im Zug der Entwicklung verändern. Zu Beginn einer Wachstumsphase kommt es zu einem Aufholwachstum, das durch die schnelle Akkumulation von Kapital und die Adaption existierender Technologien getrieben ist. Im Fall von China kam unterstützend hinzu, dass mit der Hinwendung zur «sozialistischen Marktwirtschaft» auch viel Kapital vom Staatssektor in den produktiveren Privatsektor umgeleitet wurde. Doch irgendwann sind die Millionen neuer Wohnsilos hochgezogen, die modernen Fabriken in Betrieb, die Schnellstrassen eingeweiht und die ineffizientesten Staatsbetriebe abgewickelt. Spätestens dann kommt der Innovation die Rolle der primären Wachstumsquelle zu. Doch der Wettbewerb der Ideen, der innovativen Technologien, Produkten und Businessmodellen zugrunde liegt, ist ein inhärent langsamerer Vorgang, der im Vergleich zum stürmischen Aufholprozess mit einem flacheren Wachstumspfad einhergeht.
Der seit geraumer Zeit anhaltende Angebotsüberhang im chinesischen Immobiliensektor ist ein deutliches Indiz dafür, dass sich Chinas angestammte Wachstumsquellen tatsächlich abschwächen, dass das Aufholen gerade wegen der vergangenen Erfolge zu einem Ende kommt und damit innovationsbasiertes Wachstum in den Vordergrund treten muss. Eine gewisse Wachstumsverlangsamung, auch schon vor der Pandemie erkennbar, ist daher wenig verwunderlich. Anlass zu spezieller Skepsis gibt allerdings, dass exakt in dieser Übergangszeit die Politik aktiv vieles unternimmt, was Innovation behindert. Der Chinakenner Nicholas Lardy legte schon 2019 in seinem Buch «The State Strikes Back» dar, dass unter Präsident Xi das Gewicht der relativ ineffizienten, trägen Staatsbetriebe wieder zunimmt – auf Kosten des Privatsektors.
Machtmonopol der Partei erhalten
Diese Trendumkehr zurück in Richtung mehr Einfluss der Kommunistischen Partei (KPCh) hat sich seither fortgesetzt. Chinainteressierte sind in diesem Sommer über die Meldung gestolpert, dass die britische Bank HSBC bei ihrer chinesischen Tochter ein KPCh-Parteikomitee eingerichtet hat. Solch innerbetriebliche Komitees sind ein Kanal, durch den die Partei Unternehmen kontrolliert – und nicht notwendigerweise mit unternehmerischem Erfolg als Richtschnur. HSBC folgt damit einem breiten Trend unter chinesischen Unternehmen. Er ist eine Folge des unbedingten Willens Xis, den Kontrollbereich der KPCh weiter auf die Wirtschaft auszudehnen. Ungute Erinnerungen an die Kommandowirtschaft aus der Zeit vor Deng Xiaoping werden wach. Xi scheint dem Übergang zu innovationsbasiertem Wachstum zu misstrauen: Der für Innovation unabdingbare Ideenwettbewerb könnte auf die Politik übergreifen und damit das Machtmonopol der KPCh gefährden. So werden Kontrolle und Erhalt der Vorherrschaft der Partei zum dominierenden Prinzip. Gut in dieses Bild passt auch das unter dem Titel Common Prosperity angepriesene harte Vorgehen gegen «Tech-Barone» wie Alibaba-Gründer Jack Ma.
Keine Frage, China hat in seinem Immobiliensektor ein ernsthaftes Problem. Auch wird, wie vielfach berichtet, das diesjährige Wachstum wegen der strikten Null-Covid-Politik etwas hinter den Erwartungen zurückbleiben. Im internationalen Vergleich ist es allerdings nach wie vor ansehnlich, die Covid-Politik wird gerade gelockert, und der Spielraum für akkommodierende Geld- und Fiskalpolitik ist noch nicht ausgeschöpft. Die derzeitigen wirtschaftlichen Turbulenzen mögen sich deshalb als temporäres Drama erweisen – eines, das aber bisweilen von den folgenschweren strukturellen Umwälzungen im Hintergrund ablenkt. Diese Umwälzungen bestehen in der zunehmenden Abkehr von Dengs «sozialistischer Marktwirtschaft». Damit ist mittelfristig die Fortsetzung des vor über vierzig Jahren eingeschlagenen Weges in Gefahr. Akzentuiert Präsident Xi den Parteieinfluss auf die Wirtschaft weiter, kommt eine der prägenden Entwicklungen unserer Zeit, die dramatische Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen zwischen China und dem Westen, zu einem Ende. Die ökonomischen Konsequenzen wären dann auch bei uns deutlich spürbar.
Manuel Oechslin ist Professor für Internationale Ökonomie an der Universität Luzern. Johannes Binswanger ist Professor für Business Economics and Public Policy an der Universität St. Gallen.
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Meinung – China an der Wegscheide
Unter Xi wendet sich China zunehmend von Dengs «sozialistischer Marktwirtschaft» ab. Akzentuiert Peking den Einfluss auf die Wirtschaft weiter, kommt die Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen zwischen China und dem Westen zu einem Ende.